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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Deutsches Bürgerleben der Gstseeprovinzen

sechzig Schüsseln einladen, zum ersten Besuch einer Wöchnerin nur zwölf Frauen,
und nur ebenso viele durften ihrem ersten Kirchgange beiwohnen.

Trotz aller Abhärtung und kriegerischen Rüstung war aber die Politik der
Städte, so lange es irgend möglich war, eine friedliche, und vor allem suchten
sie sich durch Zusammenschluß mit andern städtischen Gemeinwesen zu stärken.
Träger dieser klugen Politik war der Rat, und Abgeordnete dieses Rates er¬
schienen zu den oft lagerten Versammlungen in Wall, wo nur die Städte der
Ostseeprovinzen vertreten waren, andere aber traten die weite Reise zu den
großen Hansetagen an, die seltener stattfanden. Gerade durch den Anschluß
an die Hansa bekam das Deutschtum der Städte im fernen Osten einen starken
Rückhalt, denn den Städten in Deutschland mußte viel daran liegen, Riga und
die anderen Orte, die den wertvollen Handel mit Rußland vermittelten, stark
und selbständig gegen die Übergriffe des Deutschordens zu erhalten. Ferner
aber wurde auf diesen Hansetagen auch die Beschaffenheit der Waren, die nach
dem Osten geschafft wurden, einer strengen Aufsicht unterzogen. Wir hören
wiederholt von den vorgebrachten Klagen über die zunehmende Kleinheit der
Honigfäsfer und das schlechte Maß der Iperschen, Poveringschen. aber auch der
Göttinger Laken d. h. der Tuchballen. "

Alle diese Verhandlungen überließ die Bürgerschaft vertrauensvoll dem
Rate, und dieser hatte auch großen Einfluß auf das Zusammenleben der
Bürger im Inneren der Stadt, auf ihre Zünfte und Gilden, die uns hier
wegen ihres durch und durch deutschen Charakters besonders beschäftigen müssen.
Der Deutsche des Mittelalters war nicht nur ein Glied der gesamten Bürger¬
schaft, die als solche nur selten zusammenkam; er hatte vielmehr das Bedürfnis,
mit seinen engeren Standes- und Handwerksgenossen in Sachen seines Ge¬
werbes und zur Pflege der Geselligkeit in seiner Gildestube zu weilen. Es
gab Gilden der Handwerker, der Kaufleute und der vornehmen Jugend,
der sogenannten Junker. Wer in der einen Gilde war, durfte nicht gleich¬
zeitig in einer anderen tagen; im Gegensatz zu dem Vereinsleben der
heutigen Zeit nahm die Gilde die Kraft des einzelnen ganz und ungeteilt
für sich in Anspruch. Aber dafür werden in den Satzungen der einzelnen
Gilden auch alle Seiten des bürgerlichen Lebens berücksichtigt. Es wird streng
gehalten auf kirchlichen Sinn, auf bürgerliche gute und einfache Sitte, auf Zucht
und Ordnung im geselligen Zusammenleben der Gilde, auf gegenseitigen Beistand
in Not und Krankheit und endlich auf Pflege und Bewahrung des Deutschtums.

Wir gehen hier aus von den Gilden der Handwerker, an die wir zunächst
bei dem Worte Gilde denken. Erhalten sind uns die Schraaen oder Satzungen
der Böttcher, Kürschner. Schneider, Schuhmacher, Schmiedegesellen und Fischer
in Riga, der Knochenhauer, der Fuhrleute und der Bierbrauer in Reval. Bei
den letzteren sehen wir deutlich, wie der Rat und die Bürgerschaft solche Gilden
gründeten, denn in der Urkunde des Jahres 1438 heißt es: "In diesem Jahre
wurde unserR at einig mit Vollmacht der Mannheit, daß sie der Brauergesell-


Deutsches Bürgerleben der Gstseeprovinzen

sechzig Schüsseln einladen, zum ersten Besuch einer Wöchnerin nur zwölf Frauen,
und nur ebenso viele durften ihrem ersten Kirchgange beiwohnen.

Trotz aller Abhärtung und kriegerischen Rüstung war aber die Politik der
Städte, so lange es irgend möglich war, eine friedliche, und vor allem suchten
sie sich durch Zusammenschluß mit andern städtischen Gemeinwesen zu stärken.
Träger dieser klugen Politik war der Rat, und Abgeordnete dieses Rates er¬
schienen zu den oft lagerten Versammlungen in Wall, wo nur die Städte der
Ostseeprovinzen vertreten waren, andere aber traten die weite Reise zu den
großen Hansetagen an, die seltener stattfanden. Gerade durch den Anschluß
an die Hansa bekam das Deutschtum der Städte im fernen Osten einen starken
Rückhalt, denn den Städten in Deutschland mußte viel daran liegen, Riga und
die anderen Orte, die den wertvollen Handel mit Rußland vermittelten, stark
und selbständig gegen die Übergriffe des Deutschordens zu erhalten. Ferner
aber wurde auf diesen Hansetagen auch die Beschaffenheit der Waren, die nach
dem Osten geschafft wurden, einer strengen Aufsicht unterzogen. Wir hören
wiederholt von den vorgebrachten Klagen über die zunehmende Kleinheit der
Honigfäsfer und das schlechte Maß der Iperschen, Poveringschen. aber auch der
Göttinger Laken d. h. der Tuchballen. "

Alle diese Verhandlungen überließ die Bürgerschaft vertrauensvoll dem
Rate, und dieser hatte auch großen Einfluß auf das Zusammenleben der
Bürger im Inneren der Stadt, auf ihre Zünfte und Gilden, die uns hier
wegen ihres durch und durch deutschen Charakters besonders beschäftigen müssen.
Der Deutsche des Mittelalters war nicht nur ein Glied der gesamten Bürger¬
schaft, die als solche nur selten zusammenkam; er hatte vielmehr das Bedürfnis,
mit seinen engeren Standes- und Handwerksgenossen in Sachen seines Ge¬
werbes und zur Pflege der Geselligkeit in seiner Gildestube zu weilen. Es
gab Gilden der Handwerker, der Kaufleute und der vornehmen Jugend,
der sogenannten Junker. Wer in der einen Gilde war, durfte nicht gleich¬
zeitig in einer anderen tagen; im Gegensatz zu dem Vereinsleben der
heutigen Zeit nahm die Gilde die Kraft des einzelnen ganz und ungeteilt
für sich in Anspruch. Aber dafür werden in den Satzungen der einzelnen
Gilden auch alle Seiten des bürgerlichen Lebens berücksichtigt. Es wird streng
gehalten auf kirchlichen Sinn, auf bürgerliche gute und einfache Sitte, auf Zucht
und Ordnung im geselligen Zusammenleben der Gilde, auf gegenseitigen Beistand
in Not und Krankheit und endlich auf Pflege und Bewahrung des Deutschtums.

Wir gehen hier aus von den Gilden der Handwerker, an die wir zunächst
bei dem Worte Gilde denken. Erhalten sind uns die Schraaen oder Satzungen
der Böttcher, Kürschner. Schneider, Schuhmacher, Schmiedegesellen und Fischer
in Riga, der Knochenhauer, der Fuhrleute und der Bierbrauer in Reval. Bei
den letzteren sehen wir deutlich, wie der Rat und die Bürgerschaft solche Gilden
gründeten, denn in der Urkunde des Jahres 1438 heißt es: „In diesem Jahre
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/97>, abgerufen am 17.06.2024.