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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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N?ird England katholisch werden?

sich meist nach Amerika richtenden irischen Auswanderung. Es deuten alle
Anzeichen darauf hin, daß im eigentlichen England ein nennenswertes Wachs¬
tum des Katholizismus in neuerer Zeit nicht eingetreten ist. Z. B. betrug die
Zahl der nach römisch-katholischem Ritus geschlossenen Ehen in England und
Wales im Jahre 1850: 37. im Jahre 1880: 43, 1907: 42 auf das Tausend
aller Eheschließungen. Die Steigerung ist nicht erheblich und beruht auf der
Vermehrung der Iren in England. Stärker scheint freilich die katholische
Geistlichkeit zu wachsen. Z. B. zählte man 1907 in England und Wales
2290 Priester, 1909 schon 3650. Man darf daraus aber
kaum auf die Zunahme eines wirklichen Bedürfnisses schließen, da die katholische
Kirche bekanntlich bestrebt ist, in Missions gebieten möglichst zahlreiche Kräfte
ins Feld zu führen. Sie erfreut sich ja heute auch in England vollkommener
Freiheit, nachdem alle Beschränkungen, die man ihr gegenüber aus geschichtlich
erklärbarer Besorgnis vor staatsgefährlichen Einflüssen länger als anderen
nicht staatskirchlichen Gemeinschaften gegenüber festgehalten hatte, längst weg¬
gefallen sind. So ist seit 1850 auch eine katholische Hierarchie in England
wiederhergestellt. Es gibt zwölf Bistümer unter einem Erzbistum, und das
Gesetz, das den römischen Bischöfen wenigstens die öffentliche Führung ihrer
Titel untersagte, die sogenannte Kirchentitelbill von 1851, ist nie praknsch
durchgeführt worden. Es ist also der katholischen Kirche jede Möglichkeit zur
Betätigung offen, und es soll auch nicht bestritten werden, daß ihre Priester
versuchen, Anhänger zu werben, und daß ihnen das auch in mehr oder minder
zahlreichen. Fällen gelingt. Aber von einem irgendwie nennenswerten Wachs¬
tum der katholischen Kirche, das hierauf zurückzuführen wäre, kann sicherlich
nicht geredet werden.

In diesem Sinne ist aber die Frage der Überschrift auch gar nicht gemeint.
Zu der Fragestellung berechtigt vielmehr die Beobachtung bedeutsamer Wand¬
lungen, die sich innerhalb der englischen Staatskirche vollzogen haben. Es ist
eine bei uns noch nicht genügend bekannte und gewürdigte Tatsache, daß in
England seit achtzig Jahren eine Gegenreformation im Gange ist, die natürlich
nicht wie einst die römische mit irgendwelchen gewaltsamen Mitteln arbeitet,
die auch nicht auf Einzel- oder Massenbekehrungen ausgeht, die vielmehr ihr
Ziel auf eine viel umfassendere, gründlichere und darum für den Pro¬
testantismus gefährlichere Weise zu erreichen strebt. Diese Gegen¬
reformation, die in England den Katholizismus -- nicht die römische Kirche,
wie gleich hier vorläufig bemerkt sei -- wiederherstellen will, geht von einer
Richtung der englischen Staatskirche aus, die wir gewöhnlich nicht mehr ganz
zutreffend die hochkirchliche Partei nennen. Diese ist in der Kirche immer vor¬
handen gewesen. Ihr Bestreben war hauptsächlich, gegenüber den protestantisch¬
puritanischen und später pietistisch-methodistischen Elementen .die besonderen
anglikanischen Eigentümlichkeiten in Lehre, Verfassung und Gottesdienst unver¬
kürzt festzuhalten; man könnte sie also auch als die orthodox-konservative oder


N?ird England katholisch werden?

sich meist nach Amerika richtenden irischen Auswanderung. Es deuten alle
Anzeichen darauf hin, daß im eigentlichen England ein nennenswertes Wachs¬
tum des Katholizismus in neuerer Zeit nicht eingetreten ist. Z. B. betrug die
Zahl der nach römisch-katholischem Ritus geschlossenen Ehen in England und
Wales im Jahre 1850: 37. im Jahre 1880: 43, 1907: 42 auf das Tausend
aller Eheschließungen. Die Steigerung ist nicht erheblich und beruht auf der
Vermehrung der Iren in England. Stärker scheint freilich die katholische
Geistlichkeit zu wachsen. Z. B. zählte man 1907 in England und Wales
2290 Priester, 1909 schon 3650. Man darf daraus aber
kaum auf die Zunahme eines wirklichen Bedürfnisses schließen, da die katholische
Kirche bekanntlich bestrebt ist, in Missions gebieten möglichst zahlreiche Kräfte
ins Feld zu führen. Sie erfreut sich ja heute auch in England vollkommener
Freiheit, nachdem alle Beschränkungen, die man ihr gegenüber aus geschichtlich
erklärbarer Besorgnis vor staatsgefährlichen Einflüssen länger als anderen
nicht staatskirchlichen Gemeinschaften gegenüber festgehalten hatte, längst weg¬
gefallen sind. So ist seit 1850 auch eine katholische Hierarchie in England
wiederhergestellt. Es gibt zwölf Bistümer unter einem Erzbistum, und das
Gesetz, das den römischen Bischöfen wenigstens die öffentliche Führung ihrer
Titel untersagte, die sogenannte Kirchentitelbill von 1851, ist nie praknsch
durchgeführt worden. Es ist also der katholischen Kirche jede Möglichkeit zur
Betätigung offen, und es soll auch nicht bestritten werden, daß ihre Priester
versuchen, Anhänger zu werben, und daß ihnen das auch in mehr oder minder
zahlreichen. Fällen gelingt. Aber von einem irgendwie nennenswerten Wachs¬
tum der katholischen Kirche, das hierauf zurückzuführen wäre, kann sicherlich
nicht geredet werden.

In diesem Sinne ist aber die Frage der Überschrift auch gar nicht gemeint.
Zu der Fragestellung berechtigt vielmehr die Beobachtung bedeutsamer Wand¬
lungen, die sich innerhalb der englischen Staatskirche vollzogen haben. Es ist
eine bei uns noch nicht genügend bekannte und gewürdigte Tatsache, daß in
England seit achtzig Jahren eine Gegenreformation im Gange ist, die natürlich
nicht wie einst die römische mit irgendwelchen gewaltsamen Mitteln arbeitet,
die auch nicht auf Einzel- oder Massenbekehrungen ausgeht, die vielmehr ihr
Ziel auf eine viel umfassendere, gründlichere und darum für den Pro¬
testantismus gefährlichere Weise zu erreichen strebt. Diese Gegen¬
reformation, die in England den Katholizismus — nicht die römische Kirche,
wie gleich hier vorläufig bemerkt sei — wiederherstellen will, geht von einer
Richtung der englischen Staatskirche aus, die wir gewöhnlich nicht mehr ganz
zutreffend die hochkirchliche Partei nennen. Diese ist in der Kirche immer vor¬
handen gewesen. Ihr Bestreben war hauptsächlich, gegenüber den protestantisch¬
puritanischen und später pietistisch-methodistischen Elementen .die besonderen
anglikanischen Eigentümlichkeiten in Lehre, Verfassung und Gottesdienst unver¬
kürzt festzuhalten; man könnte sie also auch als die orthodox-konservative oder


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[0406] N?ird England katholisch werden? sich meist nach Amerika richtenden irischen Auswanderung. Es deuten alle Anzeichen darauf hin, daß im eigentlichen England ein nennenswertes Wachs¬ tum des Katholizismus in neuerer Zeit nicht eingetreten ist. Z. B. betrug die Zahl der nach römisch-katholischem Ritus geschlossenen Ehen in England und Wales im Jahre 1850: 37. im Jahre 1880: 43, 1907: 42 auf das Tausend aller Eheschließungen. Die Steigerung ist nicht erheblich und beruht auf der Vermehrung der Iren in England. Stärker scheint freilich die katholische Geistlichkeit zu wachsen. Z. B. zählte man 1907 in England und Wales 2290 Priester, 1909 schon 3650. Man darf daraus aber kaum auf die Zunahme eines wirklichen Bedürfnisses schließen, da die katholische Kirche bekanntlich bestrebt ist, in Missions gebieten möglichst zahlreiche Kräfte ins Feld zu führen. Sie erfreut sich ja heute auch in England vollkommener Freiheit, nachdem alle Beschränkungen, die man ihr gegenüber aus geschichtlich erklärbarer Besorgnis vor staatsgefährlichen Einflüssen länger als anderen nicht staatskirchlichen Gemeinschaften gegenüber festgehalten hatte, längst weg¬ gefallen sind. So ist seit 1850 auch eine katholische Hierarchie in England wiederhergestellt. Es gibt zwölf Bistümer unter einem Erzbistum, und das Gesetz, das den römischen Bischöfen wenigstens die öffentliche Führung ihrer Titel untersagte, die sogenannte Kirchentitelbill von 1851, ist nie praknsch durchgeführt worden. Es ist also der katholischen Kirche jede Möglichkeit zur Betätigung offen, und es soll auch nicht bestritten werden, daß ihre Priester versuchen, Anhänger zu werben, und daß ihnen das auch in mehr oder minder zahlreichen. Fällen gelingt. Aber von einem irgendwie nennenswerten Wachs¬ tum der katholischen Kirche, das hierauf zurückzuführen wäre, kann sicherlich nicht geredet werden. In diesem Sinne ist aber die Frage der Überschrift auch gar nicht gemeint. Zu der Fragestellung berechtigt vielmehr die Beobachtung bedeutsamer Wand¬ lungen, die sich innerhalb der englischen Staatskirche vollzogen haben. Es ist eine bei uns noch nicht genügend bekannte und gewürdigte Tatsache, daß in England seit achtzig Jahren eine Gegenreformation im Gange ist, die natürlich nicht wie einst die römische mit irgendwelchen gewaltsamen Mitteln arbeitet, die auch nicht auf Einzel- oder Massenbekehrungen ausgeht, die vielmehr ihr Ziel auf eine viel umfassendere, gründlichere und darum für den Pro¬ testantismus gefährlichere Weise zu erreichen strebt. Diese Gegen¬ reformation, die in England den Katholizismus — nicht die römische Kirche, wie gleich hier vorläufig bemerkt sei — wiederherstellen will, geht von einer Richtung der englischen Staatskirche aus, die wir gewöhnlich nicht mehr ganz zutreffend die hochkirchliche Partei nennen. Diese ist in der Kirche immer vor¬ handen gewesen. Ihr Bestreben war hauptsächlich, gegenüber den protestantisch¬ puritanischen und später pietistisch-methodistischen Elementen .die besonderen anglikanischen Eigentümlichkeiten in Lehre, Verfassung und Gottesdienst unver¬ kürzt festzuhalten; man könnte sie also auch als die orthodox-konservative oder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/406>, abgerufen am 20.05.2024.