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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr.

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Gundolfs Gocihebuch

Es wandelt am Rande eines Abgrunds. Dieselben dämonischen Kräfte, aus
denen sich seine tiefsten, die Urerlebnisse speisen, drohen den Bestand des Lebens
selber zu sprengen, die Rettung des Dichters ist nicht eine völlige Aufzehrung
der selbstzerstörerischen Tendenzen im Lyrismus, auch nicht ihre Ablenkung auf
unbewältigten Stoff im Symbolismus, sondern letzten Endes die Flucht ins
Allegorische. Die reife Weisheit der Spätzeit ist durch eine Erkaltung des
titanischen.Feuers erkauft.

Die Krisis, die alles entscheidet, und die dieses Leben zur Bewährung im
Verzicht hinlenkt, ist die Italienische Reise. Im Lichte einer Gundolf fremden
Sinnesart bedeutet sie eine Abkehr Goethes von den stofflich nationalen Grund¬
lagen seiner Kunst. Es gibt zu denken, daß zwei einander gänzlich fernstehende
Betrachtungsweisen am selben Punkt die Wende und -- sofern überhaupt
gewertet werden soll -- beide an eben dieser Stelle mit dem Bruch zugleich
die tragische Resignation ansetzen: die einen in der Entfremdung vom nationalen
Bildungsstoff, der andere gerade im Überwuchern des Allegorischen, bloß
Vildungshaften über die Sphäre der Urerlebnisse, hart gesprochen: im Verrat
am Dämonischen.

Diese scheu verhüllte Stellungnahme Gundolfs zur Rhythmik der Goethescher
Lebenslinie hat aber ihre bemerkenswerten Hintergründe. Man muß freilich
zwischen den Zeilen zu lesen verstehen, nur dann kann man die Spannung
wahrnehmen, die dies Unternehmen eines Jüngers des George-Kreises in sich
birgt. Wie soll das Goethesche Lebensganze positiv genommen werden, wenn
nach der dort herrschenden Doktrin die gesamte Neuzeit einen ungeheuren Ver¬
fallsprozeß bedeutet? Gundolf, dem ein unausrottbarer Sinn für das historisch
Positive die peinliche Sendung aufgebürdet hat, schon im Shakespearebuch und
nun auch hier gerade in dieser mißachteten Neuzeit soviel unverkennbare
Lebendigkeit aufzuweisen und damit eigentlich die Doktrin seines Kreises zu
desavouieren, spielt da keine sehr glückliche Doppelrolle. Erfreulicherweise tritt
dieser Doktrinarismus, der etwa bei Wolfskehl zur Opferung der ganzen
neuzeitlich-deutschen Musik geführt hat, gerade bei ihm durchaus zurück. Aber
auch für Gundolf nimmt das Ganze des Goethischen Taseinsablaufes eben
doch -- wenn auch nicht voll eingestanden -- an dieser europäischen Abwärts¬
entwicklung der Neuzeit teil. In dem feinen und tiefen Büchlein "Preußische
Prägung" hat Lucia Dora Frost kürzlich auf den seltsamen Parallelismus von
Luthers, Friedrichs des Großen, Goethes und Bismarcks Leben hingezeigt.
Sie, die gerade die Jahrhunderte seit der Reformation als den eigentlichen
Beginn eines wahrhaft historischen Jahrtausends ungeheuer gesteigerter Aktivität
preist, sieht in Fausts Weg von der Innerlichkeit zur Kolonisation den Weg
des deutschen Geistes symbolisch vorgezeichnet. Hier ist das Problem ent¬
schlossener, klarer und mitleidsloser hingesetzt, als Gundolf es wagt: und dies
ist eben der Punkt, wo sich die Geister scheiden. Glücklich, wer wie Lucia
Dora Frost innerlich auf diesen: Weg mit sich selbst im Einvernehmen ist. Zu


Gundolfs Gocihebuch

Es wandelt am Rande eines Abgrunds. Dieselben dämonischen Kräfte, aus
denen sich seine tiefsten, die Urerlebnisse speisen, drohen den Bestand des Lebens
selber zu sprengen, die Rettung des Dichters ist nicht eine völlige Aufzehrung
der selbstzerstörerischen Tendenzen im Lyrismus, auch nicht ihre Ablenkung auf
unbewältigten Stoff im Symbolismus, sondern letzten Endes die Flucht ins
Allegorische. Die reife Weisheit der Spätzeit ist durch eine Erkaltung des
titanischen.Feuers erkauft.

Die Krisis, die alles entscheidet, und die dieses Leben zur Bewährung im
Verzicht hinlenkt, ist die Italienische Reise. Im Lichte einer Gundolf fremden
Sinnesart bedeutet sie eine Abkehr Goethes von den stofflich nationalen Grund¬
lagen seiner Kunst. Es gibt zu denken, daß zwei einander gänzlich fernstehende
Betrachtungsweisen am selben Punkt die Wende und — sofern überhaupt
gewertet werden soll — beide an eben dieser Stelle mit dem Bruch zugleich
die tragische Resignation ansetzen: die einen in der Entfremdung vom nationalen
Bildungsstoff, der andere gerade im Überwuchern des Allegorischen, bloß
Vildungshaften über die Sphäre der Urerlebnisse, hart gesprochen: im Verrat
am Dämonischen.

Diese scheu verhüllte Stellungnahme Gundolfs zur Rhythmik der Goethescher
Lebenslinie hat aber ihre bemerkenswerten Hintergründe. Man muß freilich
zwischen den Zeilen zu lesen verstehen, nur dann kann man die Spannung
wahrnehmen, die dies Unternehmen eines Jüngers des George-Kreises in sich
birgt. Wie soll das Goethesche Lebensganze positiv genommen werden, wenn
nach der dort herrschenden Doktrin die gesamte Neuzeit einen ungeheuren Ver¬
fallsprozeß bedeutet? Gundolf, dem ein unausrottbarer Sinn für das historisch
Positive die peinliche Sendung aufgebürdet hat, schon im Shakespearebuch und
nun auch hier gerade in dieser mißachteten Neuzeit soviel unverkennbare
Lebendigkeit aufzuweisen und damit eigentlich die Doktrin seines Kreises zu
desavouieren, spielt da keine sehr glückliche Doppelrolle. Erfreulicherweise tritt
dieser Doktrinarismus, der etwa bei Wolfskehl zur Opferung der ganzen
neuzeitlich-deutschen Musik geführt hat, gerade bei ihm durchaus zurück. Aber
auch für Gundolf nimmt das Ganze des Goethischen Taseinsablaufes eben
doch — wenn auch nicht voll eingestanden — an dieser europäischen Abwärts¬
entwicklung der Neuzeit teil. In dem feinen und tiefen Büchlein „Preußische
Prägung" hat Lucia Dora Frost kürzlich auf den seltsamen Parallelismus von
Luthers, Friedrichs des Großen, Goethes und Bismarcks Leben hingezeigt.
Sie, die gerade die Jahrhunderte seit der Reformation als den eigentlichen
Beginn eines wahrhaft historischen Jahrtausends ungeheuer gesteigerter Aktivität
preist, sieht in Fausts Weg von der Innerlichkeit zur Kolonisation den Weg
des deutschen Geistes symbolisch vorgezeichnet. Hier ist das Problem ent¬
schlossener, klarer und mitleidsloser hingesetzt, als Gundolf es wagt: und dies
ist eben der Punkt, wo sich die Geister scheiden. Glücklich, wer wie Lucia
Dora Frost innerlich auf diesen: Weg mit sich selbst im Einvernehmen ist. Zu


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[0427] Gundolfs Gocihebuch Es wandelt am Rande eines Abgrunds. Dieselben dämonischen Kräfte, aus denen sich seine tiefsten, die Urerlebnisse speisen, drohen den Bestand des Lebens selber zu sprengen, die Rettung des Dichters ist nicht eine völlige Aufzehrung der selbstzerstörerischen Tendenzen im Lyrismus, auch nicht ihre Ablenkung auf unbewältigten Stoff im Symbolismus, sondern letzten Endes die Flucht ins Allegorische. Die reife Weisheit der Spätzeit ist durch eine Erkaltung des titanischen.Feuers erkauft. Die Krisis, die alles entscheidet, und die dieses Leben zur Bewährung im Verzicht hinlenkt, ist die Italienische Reise. Im Lichte einer Gundolf fremden Sinnesart bedeutet sie eine Abkehr Goethes von den stofflich nationalen Grund¬ lagen seiner Kunst. Es gibt zu denken, daß zwei einander gänzlich fernstehende Betrachtungsweisen am selben Punkt die Wende und — sofern überhaupt gewertet werden soll — beide an eben dieser Stelle mit dem Bruch zugleich die tragische Resignation ansetzen: die einen in der Entfremdung vom nationalen Bildungsstoff, der andere gerade im Überwuchern des Allegorischen, bloß Vildungshaften über die Sphäre der Urerlebnisse, hart gesprochen: im Verrat am Dämonischen. Diese scheu verhüllte Stellungnahme Gundolfs zur Rhythmik der Goethescher Lebenslinie hat aber ihre bemerkenswerten Hintergründe. Man muß freilich zwischen den Zeilen zu lesen verstehen, nur dann kann man die Spannung wahrnehmen, die dies Unternehmen eines Jüngers des George-Kreises in sich birgt. Wie soll das Goethesche Lebensganze positiv genommen werden, wenn nach der dort herrschenden Doktrin die gesamte Neuzeit einen ungeheuren Ver¬ fallsprozeß bedeutet? Gundolf, dem ein unausrottbarer Sinn für das historisch Positive die peinliche Sendung aufgebürdet hat, schon im Shakespearebuch und nun auch hier gerade in dieser mißachteten Neuzeit soviel unverkennbare Lebendigkeit aufzuweisen und damit eigentlich die Doktrin seines Kreises zu desavouieren, spielt da keine sehr glückliche Doppelrolle. Erfreulicherweise tritt dieser Doktrinarismus, der etwa bei Wolfskehl zur Opferung der ganzen neuzeitlich-deutschen Musik geführt hat, gerade bei ihm durchaus zurück. Aber auch für Gundolf nimmt das Ganze des Goethischen Taseinsablaufes eben doch — wenn auch nicht voll eingestanden — an dieser europäischen Abwärts¬ entwicklung der Neuzeit teil. In dem feinen und tiefen Büchlein „Preußische Prägung" hat Lucia Dora Frost kürzlich auf den seltsamen Parallelismus von Luthers, Friedrichs des Großen, Goethes und Bismarcks Leben hingezeigt. Sie, die gerade die Jahrhunderte seit der Reformation als den eigentlichen Beginn eines wahrhaft historischen Jahrtausends ungeheuer gesteigerter Aktivität preist, sieht in Fausts Weg von der Innerlichkeit zur Kolonisation den Weg des deutschen Geistes symbolisch vorgezeichnet. Hier ist das Problem ent¬ schlossener, klarer und mitleidsloser hingesetzt, als Gundolf es wagt: und dies ist eben der Punkt, wo sich die Geister scheiden. Glücklich, wer wie Lucia Dora Frost innerlich auf diesen: Weg mit sich selbst im Einvernehmen ist. Zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331841/427>, abgerufen am 19.05.2024.