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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr.

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Der entwicklungsgeschichtliche Gedanke in der Sprache

Lahr 1915, 3. Aufl., M. 3). Das Bedürfnis, über die eigene Sprache nach¬
zudenken, findet hier seine nächste und natürlichste Befriedigung. Dabei darf
nicht verkannt werden, daß wir gerade hier von der genetischen Erkenntnis
der Erscheinungen noch weit entfernt sind. Man ordnet den bunten Befund
herkömmlich nach logischen Gesichtspunkten und läßt den psychologischen Werde¬
gang des Bedeutungswandels unerforscht. Ein befriedigendes System des Be¬
deutungswandels ist noch nicht aufgestellt, der entwicklungsgeschichtliche Gedanke
auf diesem Gebiet mehr Forderung als durchgeführte Lehre. Und damit stoßen
wir hier auf die Grenzen unseres Prinzips.

Man hat die Gesamtheit der Sprachveränderungcn das Leben der Sprache
genannt, zutreffend insofern alles Leben Entwicklung ist. Der Ausdruck ist em
Bild, das man ruhig beibehalten mag, so gut wie wir trotz besserer Kenntnis
von Sonnenaufgang und -Untergang sprechen, dessen Charakter man sich aber
gegenwärtig halten muß, um nicht zu schiefen Folgerungen zu gelangen. Mit
anderen Bildern steht es nicht besser. Man nennt das Latein Muttersprache
im Verhältnis zu Spanisch usw. als Töchtersprachen, und muß sich doch hüten,
das Verhältnis der beiden genealogisch zu'fassen. Die Tochtersprache ist viel¬
mehr die Muttersprache selbst, nur in einer jüngeren Gestalt, auf einer späteren
Stufe der Entwicklung. Die Entwicklung aber leitet ohne Sprung von der
einen zur andern. So hat auch die Einteilung der Sprachen der Welt in
Sprachfamilien mit Familientypus, näherer und entfernterer Verwandtschaft
nur den Wert eines handlichen Bildes, darf aber nicht dazu verleiten, die
Dinge genealogisch zu mißdeuten. Streng genommen gibt es keine Sprache,
sondern immer nur ein Sprechen als Wirksamkeit, als Lebensäußerung des
sprechenden Menschen, ohne selbständiges Dasein. Sprachveränderungen sind
Änderungen am sprechenden Menschen, von ihm aus, psychologisch, muß man
zur Lösung der Rätsel vorzudringen suchen, die der entwicklungsgeschichtliche
Gedanke in der Sprache noch aufgibt. Denn gerade die wichtigste Frage bleibt
vorerst ungelöst: warum ändert sich die Sprache jeden Tag und in jeder Hin¬
sicht? Ihrem Zweck, der Verständigung, ist das vollkommen zuwider.






Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls Sei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.




Nachdruck sämtlicher Anfsittze nur mit auSdrticklichrr Erlaubnis dr" "erlaaS "Mallet,
"erantwdrtlich: der Herausgeber Georg Cleinow i" Berlin-Lichlerj-lde West. -- Vi.anuiir.pe,cndung-n Mit
Bricke werden erbeten unter der Adresse:
An den Herausgeber der Grrnzboten in Berlin-Lichtrrfrlde West, SternftraAr SS.
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Der entwicklungsgeschichtliche Gedanke in der Sprache

Lahr 1915, 3. Aufl., M. 3). Das Bedürfnis, über die eigene Sprache nach¬
zudenken, findet hier seine nächste und natürlichste Befriedigung. Dabei darf
nicht verkannt werden, daß wir gerade hier von der genetischen Erkenntnis
der Erscheinungen noch weit entfernt sind. Man ordnet den bunten Befund
herkömmlich nach logischen Gesichtspunkten und läßt den psychologischen Werde¬
gang des Bedeutungswandels unerforscht. Ein befriedigendes System des Be¬
deutungswandels ist noch nicht aufgestellt, der entwicklungsgeschichtliche Gedanke
auf diesem Gebiet mehr Forderung als durchgeführte Lehre. Und damit stoßen
wir hier auf die Grenzen unseres Prinzips.

Man hat die Gesamtheit der Sprachveränderungcn das Leben der Sprache
genannt, zutreffend insofern alles Leben Entwicklung ist. Der Ausdruck ist em
Bild, das man ruhig beibehalten mag, so gut wie wir trotz besserer Kenntnis
von Sonnenaufgang und -Untergang sprechen, dessen Charakter man sich aber
gegenwärtig halten muß, um nicht zu schiefen Folgerungen zu gelangen. Mit
anderen Bildern steht es nicht besser. Man nennt das Latein Muttersprache
im Verhältnis zu Spanisch usw. als Töchtersprachen, und muß sich doch hüten,
das Verhältnis der beiden genealogisch zu'fassen. Die Tochtersprache ist viel¬
mehr die Muttersprache selbst, nur in einer jüngeren Gestalt, auf einer späteren
Stufe der Entwicklung. Die Entwicklung aber leitet ohne Sprung von der
einen zur andern. So hat auch die Einteilung der Sprachen der Welt in
Sprachfamilien mit Familientypus, näherer und entfernterer Verwandtschaft
nur den Wert eines handlichen Bildes, darf aber nicht dazu verleiten, die
Dinge genealogisch zu mißdeuten. Streng genommen gibt es keine Sprache,
sondern immer nur ein Sprechen als Wirksamkeit, als Lebensäußerung des
sprechenden Menschen, ohne selbständiges Dasein. Sprachveränderungen sind
Änderungen am sprechenden Menschen, von ihm aus, psychologisch, muß man
zur Lösung der Rätsel vorzudringen suchen, die der entwicklungsgeschichtliche
Gedanke in der Sprache noch aufgibt. Denn gerade die wichtigste Frage bleibt
vorerst ungelöst: warum ändert sich die Sprache jeden Tag und in jeder Hin¬
sicht? Ihrem Zweck, der Verständigung, ist das vollkommen zuwider.






Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls Sei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden kann.




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[0077] Der entwicklungsgeschichtliche Gedanke in der Sprache Lahr 1915, 3. Aufl., M. 3). Das Bedürfnis, über die eigene Sprache nach¬ zudenken, findet hier seine nächste und natürlichste Befriedigung. Dabei darf nicht verkannt werden, daß wir gerade hier von der genetischen Erkenntnis der Erscheinungen noch weit entfernt sind. Man ordnet den bunten Befund herkömmlich nach logischen Gesichtspunkten und läßt den psychologischen Werde¬ gang des Bedeutungswandels unerforscht. Ein befriedigendes System des Be¬ deutungswandels ist noch nicht aufgestellt, der entwicklungsgeschichtliche Gedanke auf diesem Gebiet mehr Forderung als durchgeführte Lehre. Und damit stoßen wir hier auf die Grenzen unseres Prinzips. Man hat die Gesamtheit der Sprachveränderungcn das Leben der Sprache genannt, zutreffend insofern alles Leben Entwicklung ist. Der Ausdruck ist em Bild, das man ruhig beibehalten mag, so gut wie wir trotz besserer Kenntnis von Sonnenaufgang und -Untergang sprechen, dessen Charakter man sich aber gegenwärtig halten muß, um nicht zu schiefen Folgerungen zu gelangen. Mit anderen Bildern steht es nicht besser. Man nennt das Latein Muttersprache im Verhältnis zu Spanisch usw. als Töchtersprachen, und muß sich doch hüten, das Verhältnis der beiden genealogisch zu'fassen. Die Tochtersprache ist viel¬ mehr die Muttersprache selbst, nur in einer jüngeren Gestalt, auf einer späteren Stufe der Entwicklung. Die Entwicklung aber leitet ohne Sprung von der einen zur andern. So hat auch die Einteilung der Sprachen der Welt in Sprachfamilien mit Familientypus, näherer und entfernterer Verwandtschaft nur den Wert eines handlichen Bildes, darf aber nicht dazu verleiten, die Dinge genealogisch zu mißdeuten. Streng genommen gibt es keine Sprache, sondern immer nur ein Sprechen als Wirksamkeit, als Lebensäußerung des sprechenden Menschen, ohne selbständiges Dasein. Sprachveränderungen sind Änderungen am sprechenden Menschen, von ihm aus, psychologisch, muß man zur Lösung der Rätsel vorzudringen suchen, die der entwicklungsgeschichtliche Gedanke in der Sprache noch aufgibt. Denn gerade die wichtigste Frage bleibt vorerst ungelöst: warum ändert sich die Sprache jeden Tag und in jeder Hin¬ sicht? Ihrem Zweck, der Verständigung, ist das vollkommen zuwider. Allen Manuskripten ist Porto hinzuzufügen, da andernfalls Sei Ablehnung eine Rücksendung nicht verbürgt werden kann. Nachdruck sämtlicher Anfsittze nur mit auSdrticklichrr Erlaubnis dr» «erlaaS «Mallet, «erantwdrtlich: der Herausgeber Georg Cleinow i» Berlin-Lichlerj-lde West. -- Vi.anuiir.pe,cndung-n Mit Bricke werden erbeten unter der Adresse: An den Herausgeber der Grrnzboten in Berlin-Lichtrrfrlde West, SternftraAr SS. N-rnspr«es«r d«S Herausgeber«: Amt Lichterfeld« 498, de« Verlags und der Schriftleitimg: Amt Lutz»« «NS, «erlag: Berta« der Br-nzboten W. in> l>. H. in Berlin SW II, Tempelhofer Ufer SS» Druck: .Der R-ichSbote' «. «. ». H. t« Berlin SV 1t, »«flauer «er-b» WM

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331841/77>, abgerufen am 29.05.2024.