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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr.

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Die Regierungskrise

wort auf die Papstnote und noch mehr in seiner Reichstagsrede vom 8. Oktober
genähert, ohne sie sich doch restlos anzueignen. Schade, jammerschade, daß
Herr Dr. Michaelis seine Mahnung an diejenigen, welche die Friedensresolution
immer mit dem aufreizenden Schimpfwort des Hunger- und Schmachfriedens
belegen: ihr gerechter zu werden und sie positiv auszudeuten, erst jetzt aus¬
gesprochen hat, wo er nur noch tauben Ohren predigt. Wie wenig Respekt er
bei den Wortführern der "Altdeutschen" findet, mag man daraus entnehmen,
daß Graf Reventlow und, seinem Beispiel folgend, der ganze Chor der gleich-
gesinnten Presse bis auf den heutigen Tag morgens und abends das miß-
tönige Lied von dem Hungerfrieden ableiert, ohne damit etwas anderes erreichen
zu können, als daß die Mehrheitsparteien sich umsomehr auf die Resolution
versteifen.

Trotz dem gänzlichen Mangel an Rücksichtnahme auf seine Wünsche zeigt
sich aber Herr Dr. Michaelis, der zweifellos nach feinen innersten Empfindungen
den konservativen und alldeutschen Kreisen näher steht als den Mehrheitsparteien,
stets aufs neue beflissen, auch ihnen entgegenzukommen. Nur so ist es zu er¬
klären, daß er sich den Anschein gab, die Jnterpellation wegen der alldeutschen
Umtriebe im Heere für eine Bagatelle anzusehen, über.die er selbst kein Wort
zu verlieren brauche. Er wird dies selbst schwer bereut haben; denn seine
Vertreter, sowohl der Kriegsminister von Stein wie der Vizekanzler Helfferich
fanden nicht den Ton. der die Erregung des Reichstags beschwichtigt hätte.
Als der Kanzler dann selbst in die Debatte eingriff, schien das drohende Unheil
alsbald beschworen. Da mußte der Wunsch des Kanzlers, den Rechtsparteien
die bittere Pille, die für sie die Verleugnung aller und jeder Parteinahme für
die Vaterlandspartei bedeutete, zu versüßen -- einen anderen Grund vermögen
wir für die Hineinzerrnng der beklagenswerten Vorkommnisse bei der Marine
nicht zu entdecken -- einen neuen, weit schlimmeren Sturm heraufführen. Es
ist -- wir dürfen es freimütig heraussagen -- der folgenschwerste Fehler, den
der Kanzler in seiner Amtszeit begangen hat: ein Fehler, der sich gleich allen
anderen daraus erklärt, daß er, der ausgeprägte Bureaukrat, sich nur mühsam
in die Psyche der Volksvertretung hineinzufinden vermag. Nach der Stellung,
die der Sonderausschuß zu der Affäre eingenommen hatte, mußte der Kanzler
wissen, daß es ganz unangebracht sei, die Dinge im Reichstage zu besprechen,
gar im Zusammenhang mit der gegen die Altdeutschen gerichteten Jnterpellation.
In der Tat hat sich der gemeinsame Vorstoß Michaelis' und Capelles zu einem
schweren Fiasko für die Regierung gestaltet, dessen Folgen noch gar nicht ab¬
zusehen find. Die Version, die jetzt aus der Wilhelmstraße verbreitet wird,
als habe der Staatssekretär von Capelle sich nicht mit seinen Darlegungen im
Einklang mit dem Reichskanzler befunden, ist von der gesamten Presse nahezu
einstimmig abgelehnt. Auch wir müssen sagen, daß uns die Haltung Capelles
staatsmännischer dünkt als diejenige des Kanzlers. Mag Capelle immerhin die
Worte von der Mitschuld der drei Mitglieder der unabhängigen Sozialdemokratie


Die Regierungskrise

wort auf die Papstnote und noch mehr in seiner Reichstagsrede vom 8. Oktober
genähert, ohne sie sich doch restlos anzueignen. Schade, jammerschade, daß
Herr Dr. Michaelis seine Mahnung an diejenigen, welche die Friedensresolution
immer mit dem aufreizenden Schimpfwort des Hunger- und Schmachfriedens
belegen: ihr gerechter zu werden und sie positiv auszudeuten, erst jetzt aus¬
gesprochen hat, wo er nur noch tauben Ohren predigt. Wie wenig Respekt er
bei den Wortführern der „Altdeutschen" findet, mag man daraus entnehmen,
daß Graf Reventlow und, seinem Beispiel folgend, der ganze Chor der gleich-
gesinnten Presse bis auf den heutigen Tag morgens und abends das miß-
tönige Lied von dem Hungerfrieden ableiert, ohne damit etwas anderes erreichen
zu können, als daß die Mehrheitsparteien sich umsomehr auf die Resolution
versteifen.

Trotz dem gänzlichen Mangel an Rücksichtnahme auf seine Wünsche zeigt
sich aber Herr Dr. Michaelis, der zweifellos nach feinen innersten Empfindungen
den konservativen und alldeutschen Kreisen näher steht als den Mehrheitsparteien,
stets aufs neue beflissen, auch ihnen entgegenzukommen. Nur so ist es zu er¬
klären, daß er sich den Anschein gab, die Jnterpellation wegen der alldeutschen
Umtriebe im Heere für eine Bagatelle anzusehen, über.die er selbst kein Wort
zu verlieren brauche. Er wird dies selbst schwer bereut haben; denn seine
Vertreter, sowohl der Kriegsminister von Stein wie der Vizekanzler Helfferich
fanden nicht den Ton. der die Erregung des Reichstags beschwichtigt hätte.
Als der Kanzler dann selbst in die Debatte eingriff, schien das drohende Unheil
alsbald beschworen. Da mußte der Wunsch des Kanzlers, den Rechtsparteien
die bittere Pille, die für sie die Verleugnung aller und jeder Parteinahme für
die Vaterlandspartei bedeutete, zu versüßen — einen anderen Grund vermögen
wir für die Hineinzerrnng der beklagenswerten Vorkommnisse bei der Marine
nicht zu entdecken — einen neuen, weit schlimmeren Sturm heraufführen. Es
ist — wir dürfen es freimütig heraussagen — der folgenschwerste Fehler, den
der Kanzler in seiner Amtszeit begangen hat: ein Fehler, der sich gleich allen
anderen daraus erklärt, daß er, der ausgeprägte Bureaukrat, sich nur mühsam
in die Psyche der Volksvertretung hineinzufinden vermag. Nach der Stellung,
die der Sonderausschuß zu der Affäre eingenommen hatte, mußte der Kanzler
wissen, daß es ganz unangebracht sei, die Dinge im Reichstage zu besprechen,
gar im Zusammenhang mit der gegen die Altdeutschen gerichteten Jnterpellation.
In der Tat hat sich der gemeinsame Vorstoß Michaelis' und Capelles zu einem
schweren Fiasko für die Regierung gestaltet, dessen Folgen noch gar nicht ab¬
zusehen find. Die Version, die jetzt aus der Wilhelmstraße verbreitet wird,
als habe der Staatssekretär von Capelle sich nicht mit seinen Darlegungen im
Einklang mit dem Reichskanzler befunden, ist von der gesamten Presse nahezu
einstimmig abgelehnt. Auch wir müssen sagen, daß uns die Haltung Capelles
staatsmännischer dünkt als diejenige des Kanzlers. Mag Capelle immerhin die
Worte von der Mitschuld der drei Mitglieder der unabhängigen Sozialdemokratie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332712/113>, abgerufen am 10.06.2024.