Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das mitteleuropäische Aricgszicl

Reichsdeutsche hinzuweisen. Während sich die meisten Leute bei uns entweder
gar nicht um die Bundesgenossen kümmern oder nur um an ihnen zu nörgeln,
tritt hier ein Schriftsteller hervor, der zu zeigen weiß, was wir von den Ungarn
und Österreichern verlangen können und was wir nicht verlangen dürfen, aber
auch was wir für sie tun müssen. Bahr hat den Mut, unter Waffenbrüdern
die Wahrheit zu sagen. Es sind der Faktoren manche, die auch heute unter
der Not des Krieges der dauernden mitteleuropäischen Einheit entgegenarbeiten.
Bahr nennt sie alle mit der gleichen Offenheit. In Ungarn, wo die führenden
Kreise es an sich zu einem hohen Maße politischer Bildung gebracht haben,
wurzeln sie meist in einem für die heutige Zeit der Völkerbünde allzu engem
nur-magyarischen Nationalismus, in Osterreich in der zahlenmäßigen Schwäche
und parteipolitischer Zersplitterung des führenden Staats- und Kulturvolkes,
der Deutschen, und im Reiche in der Verständnislosigkeit der politischen Öffent¬
lichkeit, die immer, auch jetzt in den Kriegszieldebatten, den Blick nach ganz
anderen Seiten richtet. Von Ungarn habe ich kürzlich gesprochen. Darum soll
heute hauptsächlich von den reichsdeutschen Hemmungen des Interesses für die
Fragen Österreichs-Ungarns und für die mitteleuropäischen Kriegsziele die
Rede sein.

Der deutsche Nationalismus ist minder einseitig als der magyarische, denn
wir Deutschen wohnen in unserem Reiche fast allein, während die Magyaren
in Ungarn nur eine ganz kleine Mehrheit neben den "Nationalitäten" aus¬
machen und darum schon in ihrer inneren Politik veranlaßt sind, rationalistischer
aufzutreten. Bei uns Deutschen hängt das mangelnde Verständnis für die
mitteleuropäischen Ideen mehr mit einer gewissen, ich möchte sagen, materia¬
listischen politischen Erziehung unserer öffentlichen Meinung zusammen, die wir
erfahren haben, seit wir sogenannte "Realpolitik" treiben. Der mitteleuropäische
Gedanke ist ja keine Erfindung der modernen Wirtschafts- und Machtpolitik,
sondern er stammt aus den inneren Erlebnissen des deutschen Volkes in seiner
Geschichte, z. B. aus der alten Kaiseridee und aus dem Kopfe oder dem Herzen
ideologisch gerichteter politischer Denker. Seiner Geschichte hat kürzlich die
Flugschriftsammlung "Der deutsche Krieg" ein Heftchen gewidmet"). Es sind
die Fortbildner der einstigen großdeutschen Ideen, wie der österreichische Minister
von Brück*"), und reichsdeutsche Denker wie Konstantin Frantz. Karl Christian
Planck und Paul de Lagarde, die in der Zeit der kleindeutschen Reichsgründung
die Einheit Mitteleuropas, Deutschlands und Österreich-Ungarns als ferneres
Ziel im Auge behielten. Alle diese Publizisten fanden zu ihrer Zeit nicht gerade
Anklang, eben weil ihre Gedanken mit den großdeutschen Retchsträumeu in
einem gewissen Zusammenhange der Entwicklung standen. Damals und später




*) Dr. Jacques Stern, "Mitteleuropa". Von Leibniz bis Naumann über List und
Frantz, Planck und Lagarde. "Der deutsche Krieg", politische Flugschriften, herausgegeben
aom Ernst Jacks, Ur. 92. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart-Berlin. Preis 60 Pf.
**) Vgl. meinen Aussatz "Das Vermächtnis Brucks", "Grenzboten" 1917, Ur. 12.
Das mitteleuropäische Aricgszicl

Reichsdeutsche hinzuweisen. Während sich die meisten Leute bei uns entweder
gar nicht um die Bundesgenossen kümmern oder nur um an ihnen zu nörgeln,
tritt hier ein Schriftsteller hervor, der zu zeigen weiß, was wir von den Ungarn
und Österreichern verlangen können und was wir nicht verlangen dürfen, aber
auch was wir für sie tun müssen. Bahr hat den Mut, unter Waffenbrüdern
die Wahrheit zu sagen. Es sind der Faktoren manche, die auch heute unter
der Not des Krieges der dauernden mitteleuropäischen Einheit entgegenarbeiten.
Bahr nennt sie alle mit der gleichen Offenheit. In Ungarn, wo die führenden
Kreise es an sich zu einem hohen Maße politischer Bildung gebracht haben,
wurzeln sie meist in einem für die heutige Zeit der Völkerbünde allzu engem
nur-magyarischen Nationalismus, in Osterreich in der zahlenmäßigen Schwäche
und parteipolitischer Zersplitterung des führenden Staats- und Kulturvolkes,
der Deutschen, und im Reiche in der Verständnislosigkeit der politischen Öffent¬
lichkeit, die immer, auch jetzt in den Kriegszieldebatten, den Blick nach ganz
anderen Seiten richtet. Von Ungarn habe ich kürzlich gesprochen. Darum soll
heute hauptsächlich von den reichsdeutschen Hemmungen des Interesses für die
Fragen Österreichs-Ungarns und für die mitteleuropäischen Kriegsziele die
Rede sein.

Der deutsche Nationalismus ist minder einseitig als der magyarische, denn
wir Deutschen wohnen in unserem Reiche fast allein, während die Magyaren
in Ungarn nur eine ganz kleine Mehrheit neben den „Nationalitäten" aus¬
machen und darum schon in ihrer inneren Politik veranlaßt sind, rationalistischer
aufzutreten. Bei uns Deutschen hängt das mangelnde Verständnis für die
mitteleuropäischen Ideen mehr mit einer gewissen, ich möchte sagen, materia¬
listischen politischen Erziehung unserer öffentlichen Meinung zusammen, die wir
erfahren haben, seit wir sogenannte „Realpolitik" treiben. Der mitteleuropäische
Gedanke ist ja keine Erfindung der modernen Wirtschafts- und Machtpolitik,
sondern er stammt aus den inneren Erlebnissen des deutschen Volkes in seiner
Geschichte, z. B. aus der alten Kaiseridee und aus dem Kopfe oder dem Herzen
ideologisch gerichteter politischer Denker. Seiner Geschichte hat kürzlich die
Flugschriftsammlung „Der deutsche Krieg" ein Heftchen gewidmet"). Es sind
die Fortbildner der einstigen großdeutschen Ideen, wie der österreichische Minister
von Brück*"), und reichsdeutsche Denker wie Konstantin Frantz. Karl Christian
Planck und Paul de Lagarde, die in der Zeit der kleindeutschen Reichsgründung
die Einheit Mitteleuropas, Deutschlands und Österreich-Ungarns als ferneres
Ziel im Auge behielten. Alle diese Publizisten fanden zu ihrer Zeit nicht gerade
Anklang, eben weil ihre Gedanken mit den großdeutschen Retchsträumeu in
einem gewissen Zusammenhange der Entwicklung standen. Damals und später




*) Dr. Jacques Stern, „Mitteleuropa". Von Leibniz bis Naumann über List und
Frantz, Planck und Lagarde. „Der deutsche Krieg", politische Flugschriften, herausgegeben
aom Ernst Jacks, Ur. 92. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart-Berlin. Preis 60 Pf.
**) Vgl. meinen Aussatz „Das Vermächtnis Brucks", „Grenzboten" 1917, Ur. 12.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0118" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/332833"/>
          <fw type="header" place="top"> Das mitteleuropäische Aricgszicl</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_409" prev="#ID_408"> Reichsdeutsche hinzuweisen. Während sich die meisten Leute bei uns entweder<lb/>
gar nicht um die Bundesgenossen kümmern oder nur um an ihnen zu nörgeln,<lb/>
tritt hier ein Schriftsteller hervor, der zu zeigen weiß, was wir von den Ungarn<lb/>
und Österreichern verlangen können und was wir nicht verlangen dürfen, aber<lb/>
auch was wir für sie tun müssen. Bahr hat den Mut, unter Waffenbrüdern<lb/>
die Wahrheit zu sagen. Es sind der Faktoren manche, die auch heute unter<lb/>
der Not des Krieges der dauernden mitteleuropäischen Einheit entgegenarbeiten.<lb/>
Bahr nennt sie alle mit der gleichen Offenheit. In Ungarn, wo die führenden<lb/>
Kreise es an sich zu einem hohen Maße politischer Bildung gebracht haben,<lb/>
wurzeln sie meist in einem für die heutige Zeit der Völkerbünde allzu engem<lb/>
nur-magyarischen Nationalismus, in Osterreich in der zahlenmäßigen Schwäche<lb/>
und parteipolitischer Zersplitterung des führenden Staats- und Kulturvolkes,<lb/>
der Deutschen, und im Reiche in der Verständnislosigkeit der politischen Öffent¬<lb/>
lichkeit, die immer, auch jetzt in den Kriegszieldebatten, den Blick nach ganz<lb/>
anderen Seiten richtet. Von Ungarn habe ich kürzlich gesprochen. Darum soll<lb/>
heute hauptsächlich von den reichsdeutschen Hemmungen des Interesses für die<lb/>
Fragen Österreichs-Ungarns und für die mitteleuropäischen Kriegsziele die<lb/>
Rede sein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_410" next="#ID_411"> Der deutsche Nationalismus ist minder einseitig als der magyarische, denn<lb/>
wir Deutschen wohnen in unserem Reiche fast allein, während die Magyaren<lb/>
in Ungarn nur eine ganz kleine Mehrheit neben den &#x201E;Nationalitäten" aus¬<lb/>
machen und darum schon in ihrer inneren Politik veranlaßt sind, rationalistischer<lb/>
aufzutreten. Bei uns Deutschen hängt das mangelnde Verständnis für die<lb/>
mitteleuropäischen Ideen mehr mit einer gewissen, ich möchte sagen, materia¬<lb/>
listischen politischen Erziehung unserer öffentlichen Meinung zusammen, die wir<lb/>
erfahren haben, seit wir sogenannte &#x201E;Realpolitik" treiben. Der mitteleuropäische<lb/>
Gedanke ist ja keine Erfindung der modernen Wirtschafts- und Machtpolitik,<lb/>
sondern er stammt aus den inneren Erlebnissen des deutschen Volkes in seiner<lb/>
Geschichte, z. B. aus der alten Kaiseridee und aus dem Kopfe oder dem Herzen<lb/>
ideologisch gerichteter politischer Denker. Seiner Geschichte hat kürzlich die<lb/>
Flugschriftsammlung &#x201E;Der deutsche Krieg" ein Heftchen gewidmet"). Es sind<lb/>
die Fortbildner der einstigen großdeutschen Ideen, wie der österreichische Minister<lb/>
von Brück*"), und reichsdeutsche Denker wie Konstantin Frantz. Karl Christian<lb/>
Planck und Paul de Lagarde, die in der Zeit der kleindeutschen Reichsgründung<lb/>
die Einheit Mitteleuropas, Deutschlands und Österreich-Ungarns als ferneres<lb/>
Ziel im Auge behielten. Alle diese Publizisten fanden zu ihrer Zeit nicht gerade<lb/>
Anklang, eben weil ihre Gedanken mit den großdeutschen Retchsträumeu in<lb/>
einem gewissen Zusammenhange der Entwicklung standen. Damals und später</p><lb/>
          <note xml:id="FID_28" place="foot"> *) Dr. Jacques Stern, &#x201E;Mitteleuropa". Von Leibniz bis Naumann über List und<lb/>
Frantz, Planck und Lagarde. &#x201E;Der deutsche Krieg", politische Flugschriften, herausgegeben<lb/>
aom Ernst Jacks, Ur. 92. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart-Berlin. Preis 60 Pf.</note><lb/>
          <note xml:id="FID_29" place="foot"> **) Vgl. meinen Aussatz &#x201E;Das Vermächtnis Brucks", &#x201E;Grenzboten" 1917, Ur. 12.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0118] Das mitteleuropäische Aricgszicl Reichsdeutsche hinzuweisen. Während sich die meisten Leute bei uns entweder gar nicht um die Bundesgenossen kümmern oder nur um an ihnen zu nörgeln, tritt hier ein Schriftsteller hervor, der zu zeigen weiß, was wir von den Ungarn und Österreichern verlangen können und was wir nicht verlangen dürfen, aber auch was wir für sie tun müssen. Bahr hat den Mut, unter Waffenbrüdern die Wahrheit zu sagen. Es sind der Faktoren manche, die auch heute unter der Not des Krieges der dauernden mitteleuropäischen Einheit entgegenarbeiten. Bahr nennt sie alle mit der gleichen Offenheit. In Ungarn, wo die führenden Kreise es an sich zu einem hohen Maße politischer Bildung gebracht haben, wurzeln sie meist in einem für die heutige Zeit der Völkerbünde allzu engem nur-magyarischen Nationalismus, in Osterreich in der zahlenmäßigen Schwäche und parteipolitischer Zersplitterung des führenden Staats- und Kulturvolkes, der Deutschen, und im Reiche in der Verständnislosigkeit der politischen Öffent¬ lichkeit, die immer, auch jetzt in den Kriegszieldebatten, den Blick nach ganz anderen Seiten richtet. Von Ungarn habe ich kürzlich gesprochen. Darum soll heute hauptsächlich von den reichsdeutschen Hemmungen des Interesses für die Fragen Österreichs-Ungarns und für die mitteleuropäischen Kriegsziele die Rede sein. Der deutsche Nationalismus ist minder einseitig als der magyarische, denn wir Deutschen wohnen in unserem Reiche fast allein, während die Magyaren in Ungarn nur eine ganz kleine Mehrheit neben den „Nationalitäten" aus¬ machen und darum schon in ihrer inneren Politik veranlaßt sind, rationalistischer aufzutreten. Bei uns Deutschen hängt das mangelnde Verständnis für die mitteleuropäischen Ideen mehr mit einer gewissen, ich möchte sagen, materia¬ listischen politischen Erziehung unserer öffentlichen Meinung zusammen, die wir erfahren haben, seit wir sogenannte „Realpolitik" treiben. Der mitteleuropäische Gedanke ist ja keine Erfindung der modernen Wirtschafts- und Machtpolitik, sondern er stammt aus den inneren Erlebnissen des deutschen Volkes in seiner Geschichte, z. B. aus der alten Kaiseridee und aus dem Kopfe oder dem Herzen ideologisch gerichteter politischer Denker. Seiner Geschichte hat kürzlich die Flugschriftsammlung „Der deutsche Krieg" ein Heftchen gewidmet"). Es sind die Fortbildner der einstigen großdeutschen Ideen, wie der österreichische Minister von Brück*"), und reichsdeutsche Denker wie Konstantin Frantz. Karl Christian Planck und Paul de Lagarde, die in der Zeit der kleindeutschen Reichsgründung die Einheit Mitteleuropas, Deutschlands und Österreich-Ungarns als ferneres Ziel im Auge behielten. Alle diese Publizisten fanden zu ihrer Zeit nicht gerade Anklang, eben weil ihre Gedanken mit den großdeutschen Retchsträumeu in einem gewissen Zusammenhange der Entwicklung standen. Damals und später *) Dr. Jacques Stern, „Mitteleuropa". Von Leibniz bis Naumann über List und Frantz, Planck und Lagarde. „Der deutsche Krieg", politische Flugschriften, herausgegeben aom Ernst Jacks, Ur. 92. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart-Berlin. Preis 60 Pf. **) Vgl. meinen Aussatz „Das Vermächtnis Brucks", „Grenzboten" 1917, Ur. 12.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332712
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332712/118
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332712/118>, abgerufen am 10.06.2024.