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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr.

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Die neue Prüfungsordnung

übrigens nach wie vor der Regel nach an zwei verschiedenen Anstalten abgelegt
werden sollen. Sie erhalten einen sehr reichen Inhalt; nicht nur über die
Geschichte des Erziehungs- und Unterrichtswesens und seine Verfassung, sondern
vor allem auch über pädagogische und psychologische Einzelfragen werden die
Kandidaten instruiert. Weiter erhalten sie nun, wenn nicht schon in der zweiten
Hälfte des ersten Vorbereitungsjahres, selbständigen Unterricht, müssen etwa
alle vier Wochen Lehrproben abhalten und sollen in dieser Zeit den Unterricht
verschiedener Oberlehrer besuchen. Die Prüfung am Schlüsse der Vorbereitungs¬
zeit unterscheidet sich nicht wesentlich von den schon jetzt bestehenden An¬
forderungen.

Das Schwergewicht in der Vorbereitungszeit liegt also auf dem praktischen
Gebiet wie früher. Aber dies Gebiet ist erheblich umfangreicher geworden.
Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn Reinhardts Büchlein in dem be¬
treffenden Abschnitt viel mehr in die Einzelheiten eingeht. Auch für den Laien,
der es einmal zur Hand nimmt, wird ohne weiteres aus seinen Ausführungen
hervorgehen, daß heutzutage ganz andere Anforderungen an den Oberlehrer¬
nachwuchs herantreten als früher. Sie sind beeinflußt von der starken Aus¬
dehnung, die die pädagogische Kunstlehre genommen hat, bei uns ebenso wie
z. B. bei den Franzosen. Aber bei den erzieherischen Neigungen unserer Nation
sind in den letzten Jahren die Tendenzen nach dieser Seite stark in den Vorder¬
grund getreten: selbst während und gerade während des Krieges ist die päda¬
gogische Literatur ins Ungeheuerliche angeschwollen. So werden nun im
Kommentar der Prüfungsordnung die Grundsätze entwickelt, nach denen der
Kandidat ausgebildet werden soll, und es werden ihm selber Anleitungen für
seinen künftigen Beruf gegeben, die von bleibendem Wert sind, an der Spitze
steht der entscheidende Satz: "Vorheriges langes Zusehen und Zuhören . . .
hilft dem Kandidaten wenig, ehe er selbst mit zugegriffen und die Schwierig¬
keiten in der Sache selbst gespürt hat." Er soll eben gleich hinein in die
Praxis und aus ihr für sie lernen, er muß jede Stunde einzeln vorbereiten,
er muß in der Stunde sich selbst, die Schüler und den Stoff bis ins kleinste
hinein beherrschen. Dazu gibt Reinhardt vortreffliche Anweisungen, die vor
allem von jeder Kleingeistigkeit, jeder mechanischen Auffassung des Lehrberufes
weit entfernt sind. Aber mindestens ebenso wichtig wie die Vermittelung von
Kenntnissen ist die Aufgabe der Schule als Erzieherin. Deshalb verlangt
Reinhardt auch vom Lehrer eine viel größere Fühlungnahme mit dem Schüler
und seinem Hause, als sie der Unterricht allein geben kann. Fast wie der
Pfarrer muß er zu seinen Zöglingen stehen, stets geneigt, ihre Wünsche zu hören,
auch bei "schweren" Schülern bereit, an das Gute in ihnen zu glauben, denn
nur Vertrauen erzeugt und erhält Vertrauen. Diesem Optimismus des Lehrers
muß aber auf der anderen Seite eine ernste, gesammelte Kraft entsprechen, die
im entscheidenden Fall auch durchgreifen kann. Nur Liebe allein zwingt die
Schüler nicht, auch Strenge muß dabei sein. Hauptsache ist, daß die Schule


Die neue Prüfungsordnung

übrigens nach wie vor der Regel nach an zwei verschiedenen Anstalten abgelegt
werden sollen. Sie erhalten einen sehr reichen Inhalt; nicht nur über die
Geschichte des Erziehungs- und Unterrichtswesens und seine Verfassung, sondern
vor allem auch über pädagogische und psychologische Einzelfragen werden die
Kandidaten instruiert. Weiter erhalten sie nun, wenn nicht schon in der zweiten
Hälfte des ersten Vorbereitungsjahres, selbständigen Unterricht, müssen etwa
alle vier Wochen Lehrproben abhalten und sollen in dieser Zeit den Unterricht
verschiedener Oberlehrer besuchen. Die Prüfung am Schlüsse der Vorbereitungs¬
zeit unterscheidet sich nicht wesentlich von den schon jetzt bestehenden An¬
forderungen.

Das Schwergewicht in der Vorbereitungszeit liegt also auf dem praktischen
Gebiet wie früher. Aber dies Gebiet ist erheblich umfangreicher geworden.
Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn Reinhardts Büchlein in dem be¬
treffenden Abschnitt viel mehr in die Einzelheiten eingeht. Auch für den Laien,
der es einmal zur Hand nimmt, wird ohne weiteres aus seinen Ausführungen
hervorgehen, daß heutzutage ganz andere Anforderungen an den Oberlehrer¬
nachwuchs herantreten als früher. Sie sind beeinflußt von der starken Aus¬
dehnung, die die pädagogische Kunstlehre genommen hat, bei uns ebenso wie
z. B. bei den Franzosen. Aber bei den erzieherischen Neigungen unserer Nation
sind in den letzten Jahren die Tendenzen nach dieser Seite stark in den Vorder¬
grund getreten: selbst während und gerade während des Krieges ist die päda¬
gogische Literatur ins Ungeheuerliche angeschwollen. So werden nun im
Kommentar der Prüfungsordnung die Grundsätze entwickelt, nach denen der
Kandidat ausgebildet werden soll, und es werden ihm selber Anleitungen für
seinen künftigen Beruf gegeben, die von bleibendem Wert sind, an der Spitze
steht der entscheidende Satz: „Vorheriges langes Zusehen und Zuhören . . .
hilft dem Kandidaten wenig, ehe er selbst mit zugegriffen und die Schwierig¬
keiten in der Sache selbst gespürt hat." Er soll eben gleich hinein in die
Praxis und aus ihr für sie lernen, er muß jede Stunde einzeln vorbereiten,
er muß in der Stunde sich selbst, die Schüler und den Stoff bis ins kleinste
hinein beherrschen. Dazu gibt Reinhardt vortreffliche Anweisungen, die vor
allem von jeder Kleingeistigkeit, jeder mechanischen Auffassung des Lehrberufes
weit entfernt sind. Aber mindestens ebenso wichtig wie die Vermittelung von
Kenntnissen ist die Aufgabe der Schule als Erzieherin. Deshalb verlangt
Reinhardt auch vom Lehrer eine viel größere Fühlungnahme mit dem Schüler
und seinem Hause, als sie der Unterricht allein geben kann. Fast wie der
Pfarrer muß er zu seinen Zöglingen stehen, stets geneigt, ihre Wünsche zu hören,
auch bei „schweren" Schülern bereit, an das Gute in ihnen zu glauben, denn
nur Vertrauen erzeugt und erhält Vertrauen. Diesem Optimismus des Lehrers
muß aber auf der anderen Seite eine ernste, gesammelte Kraft entsprechen, die
im entscheidenden Fall auch durchgreifen kann. Nur Liebe allein zwingt die
Schüler nicht, auch Strenge muß dabei sein. Hauptsache ist, daß die Schule


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332712/128>, abgerufen am 10.06.2024.