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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr.

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Im chemisch-baltischen Gebiet während des Weltkrieges

Am Sonntag den 6./19. August fiel die Entscheidung: sie war im großen und
ganzen kaum noch, wohl aber im einzelnen voller Überraschungen. Es erwies
sich, daß die Maximalsten 31 Sitze, die Sozialrevolutionäre 22, die chemischen
Radikal-Sozialen 13, die Minimalisten 12, die chemischen gemäßigten Liberalen 6,
die Deutschen 3, die Nationalrussen nur 3 Sitze erstritten hatten. Der Rest ver¬
teilte sich auf Kadetten, Letto-Litauer, Polen. -- Für eine Anfechtung der. Wahl
hätten Gründe genug vorgelegen. Aber es war klar, daß sich durch Neuwahlen
das Gesamtbild kaum geändert hätte. -- In den kleinen Städten Estlands und
Nordlivlands ergaben die Wahlen ähnliche Bilder; in Pernau hatten die Deutschen
relativ gut abgeschnitten, in Fellin Dagegen, das eine rührige deutsche Bevölkerung
hat, kam diese bei den Wahlen kaum zur Wahrnehmung,

Damit ist eine Periode im geschichtlichen Leben des chemisch-baltischen Gebiets
zu einem Abschluß gelangt, der in dem diesen Verhältnissen Näherstehenden mit
bangem Zweifel die Frage aufsteigen läßt, ob eine organische Kontinuität zwischen
alter und neuer "Ordnung" überhaupt noch herzustellen ist. Noch verlautet kaum
etwas von den Plänen der neuen Stadtväter. Was aber als realer Faktor schon
erreicht ist. das ist eine starke Erschütterung des Budgets der Stadt Reval, vor
allem durch die Riesenausgaben für die an Stelle der Polizei neu eingeführte,
wenig laugende "Miliz".

Was wird werden? Nach den neuesten Vorgängen ist Reval mehr denn
je bedroht. Die gesamte Stadtverwaltung liegt eben in den Händen des Festungs-
kommandanten, der es nicht hat verhindern können, daß es unlängst zu Unruhen
in der Stadt kam. Branntweinläden wurden geplündert, auf die Menge mußte
aus Kugelspritzen geschossen werden. Die Mischen Regimenter aber, deren Ke°
renski zwei bewilligt hatte, sind nach Livland entsandt worden. .. Die ruhigen
Elemente haben, ganz wie 1903, einen Selbstschutz organisiert. Viele Bewohner
verlassen die Stadt; die Schulen sind teilweise geschlossen. Am Abend ist's stock¬
finster ....

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Im chemisch-baltischen Gebiet während des Weltkrieges

Am Sonntag den 6./19. August fiel die Entscheidung: sie war im großen und
ganzen kaum noch, wohl aber im einzelnen voller Überraschungen. Es erwies
sich, daß die Maximalsten 31 Sitze, die Sozialrevolutionäre 22, die chemischen
Radikal-Sozialen 13, die Minimalisten 12, die chemischen gemäßigten Liberalen 6,
die Deutschen 3, die Nationalrussen nur 3 Sitze erstritten hatten. Der Rest ver¬
teilte sich auf Kadetten, Letto-Litauer, Polen. — Für eine Anfechtung der. Wahl
hätten Gründe genug vorgelegen. Aber es war klar, daß sich durch Neuwahlen
das Gesamtbild kaum geändert hätte. — In den kleinen Städten Estlands und
Nordlivlands ergaben die Wahlen ähnliche Bilder; in Pernau hatten die Deutschen
relativ gut abgeschnitten, in Fellin Dagegen, das eine rührige deutsche Bevölkerung
hat, kam diese bei den Wahlen kaum zur Wahrnehmung,

Damit ist eine Periode im geschichtlichen Leben des chemisch-baltischen Gebiets
zu einem Abschluß gelangt, der in dem diesen Verhältnissen Näherstehenden mit
bangem Zweifel die Frage aufsteigen läßt, ob eine organische Kontinuität zwischen
alter und neuer „Ordnung" überhaupt noch herzustellen ist. Noch verlautet kaum
etwas von den Plänen der neuen Stadtväter. Was aber als realer Faktor schon
erreicht ist. das ist eine starke Erschütterung des Budgets der Stadt Reval, vor
allem durch die Riesenausgaben für die an Stelle der Polizei neu eingeführte,
wenig laugende „Miliz".

Was wird werden? Nach den neuesten Vorgängen ist Reval mehr denn
je bedroht. Die gesamte Stadtverwaltung liegt eben in den Händen des Festungs-
kommandanten, der es nicht hat verhindern können, daß es unlängst zu Unruhen
in der Stadt kam. Branntweinläden wurden geplündert, auf die Menge mußte
aus Kugelspritzen geschossen werden. Die Mischen Regimenter aber, deren Ke°
renski zwei bewilligt hatte, sind nach Livland entsandt worden. .. Die ruhigen
Elemente haben, ganz wie 1903, einen Selbstschutz organisiert. Viele Bewohner
verlassen die Stadt; die Schulen sind teilweise geschlossen. Am Abend ist's stock¬
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[0261] Im chemisch-baltischen Gebiet während des Weltkrieges Am Sonntag den 6./19. August fiel die Entscheidung: sie war im großen und ganzen kaum noch, wohl aber im einzelnen voller Überraschungen. Es erwies sich, daß die Maximalsten 31 Sitze, die Sozialrevolutionäre 22, die chemischen Radikal-Sozialen 13, die Minimalisten 12, die chemischen gemäßigten Liberalen 6, die Deutschen 3, die Nationalrussen nur 3 Sitze erstritten hatten. Der Rest ver¬ teilte sich auf Kadetten, Letto-Litauer, Polen. — Für eine Anfechtung der. Wahl hätten Gründe genug vorgelegen. Aber es war klar, daß sich durch Neuwahlen das Gesamtbild kaum geändert hätte. — In den kleinen Städten Estlands und Nordlivlands ergaben die Wahlen ähnliche Bilder; in Pernau hatten die Deutschen relativ gut abgeschnitten, in Fellin Dagegen, das eine rührige deutsche Bevölkerung hat, kam diese bei den Wahlen kaum zur Wahrnehmung, Damit ist eine Periode im geschichtlichen Leben des chemisch-baltischen Gebiets zu einem Abschluß gelangt, der in dem diesen Verhältnissen Näherstehenden mit bangem Zweifel die Frage aufsteigen läßt, ob eine organische Kontinuität zwischen alter und neuer „Ordnung" überhaupt noch herzustellen ist. Noch verlautet kaum etwas von den Plänen der neuen Stadtväter. Was aber als realer Faktor schon erreicht ist. das ist eine starke Erschütterung des Budgets der Stadt Reval, vor allem durch die Riesenausgaben für die an Stelle der Polizei neu eingeführte, wenig laugende „Miliz". Was wird werden? Nach den neuesten Vorgängen ist Reval mehr denn je bedroht. Die gesamte Stadtverwaltung liegt eben in den Händen des Festungs- kommandanten, der es nicht hat verhindern können, daß es unlängst zu Unruhen in der Stadt kam. Branntweinläden wurden geplündert, auf die Menge mußte aus Kugelspritzen geschossen werden. Die Mischen Regimenter aber, deren Ke° renski zwei bewilligt hatte, sind nach Livland entsandt worden. .. Die ruhigen Elemente haben, ganz wie 1903, einen Selbstschutz organisiert. Viele Bewohner verlassen die Stadt; die Schulen sind teilweise geschlossen. Am Abend ist's stock¬ finster .... <^AM satis tsrris nivis atque ckrao Zranämis misit Pater« .... ? Greuzbvtim IV >»I7

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332712/261>, abgerufen am 19.05.2024.