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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr.

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Der Staat als Lebensform

mitteln. Drum konnte dem stürmisch klopfenden Pulsschlag der Zeit eine auf
Grund kühler juristischer Analyse gewonnene Definition nicht mehr genügen, die
im besten Falle (so etwa bei Jellinek in seiner "Allgemeinen Staatslehre") nur
mit einem "Rechtssubjekt" aufwartet, d. h. mit einer bloßen Relation ohne reale
Qualitäten wie alle Rechtsbegriffe. Das war wie Stein statt Brot sür den
nach substanzieller Abrundung drängenden Geist.

Aus dieser Stimmung wird eine Betrachtung des "Staates als Lebens¬
form" geboren, wie sie Rudolf Kjellen in einem gleichnamigen unlängst er¬
schienenen Buche versucht (Hirzel, 1917). Der schwedische Gelehrte ist deutscher
Wissenschaft und wohl ebenso dem politisch interessierten Publikum kein Fremder
mehr. Auch seine Auffassung des Problems findet sich in früheren Schriften
schon angekündigt. Was er in den "Großmächten" und in den "Problemen
des Weltkrieges" (beide bei Teubner) an der Hand praktischer Experimente,
einmal unter statischen, das andere Mal unter dynamischen Gesichtspunkt
erprobt hat, soll nunmehr seine theoretische Zusammenfassung und Begründung
finden.

Der Titel des jüngsten Werkes ist programmatisch sür die Weltanschauung
des Verfassers. Georg Jellinek, dem die allgemeine Staatslehre eine weit
hervorragende Darstellung ihres reichen und schwierigen Stoffes verdankt, kommt
in seinen Ausführungen über das Wesen des Staates zu dem Ergebnis, daß
"der Gegensatz in den prinzipiellen Anschauungen von dieser Gemeinschaft zurück¬
zuführen ist auf den Gegensatz der beiden großen Weltanschauungen: der in-
dividualistisch-atomistischen und der kollektivistisch-universalistischen". Was be-
deutet diese Antithese? Auf die kürzeste Formel gebracht doch, ob man das
einzelne vor dem allgemeinen denkt -- dieses "vor" im Zeit- und Wertsinn
genommen -- oder umgekehrt; in einer für unser Beispiel fruchtbaren Kon¬
sequenz: ob man gewillt und imstande ist. zwischen den Einzelindividuen und
ihrer Summe, der Menschheit sich selbständige, überindividuelle, nicht bloß ab¬
strahierte Einheiten vorzustellen. Es ist neuerdings vorgeschlagen worden,
"Völker und Kulturen einzuteilen in solche mit universalistischem und andere
mit nominalistischem (individualistischen) Querschnitt" (von Siegfried Marck in
einer kleinen, gedankenreichen Schrift: "Deutsche Staatsgesinnung"). In
der Tat offenbart sich hier ein tiefer Gegensatz zwischen deutschen: und west¬
europäischem Geiste.

Der französische Philosoph Emile Boutroux spottet über die deutsche Staats¬
mystik, die im Staate "die höchste Verwirklichung des Göttlichen" erblicke;
Denys Cochin, sein Kollege von der Akademie, vergleicht sie mit dem Kult des
Hobbesschen Staatsgötzen "Leviathan" und der englische Bischof Weltton kenn¬
zeichnet diese ganze Denkungsart als philosophischen Unsinn. Warum tun sie
das? Weil sie als echte Nominalisten unfähig sind, im allgemeinen mehr zu
sehen als eine inhaltsleere Schöpfung der souveränen Individuen. (Rousseau
dachte universalistisch, als er aus dem Gesellschaftsverträge eine "as80Lmtlon"


Der Staat als Lebensform

mitteln. Drum konnte dem stürmisch klopfenden Pulsschlag der Zeit eine auf
Grund kühler juristischer Analyse gewonnene Definition nicht mehr genügen, die
im besten Falle (so etwa bei Jellinek in seiner „Allgemeinen Staatslehre") nur
mit einem „Rechtssubjekt" aufwartet, d. h. mit einer bloßen Relation ohne reale
Qualitäten wie alle Rechtsbegriffe. Das war wie Stein statt Brot sür den
nach substanzieller Abrundung drängenden Geist.

Aus dieser Stimmung wird eine Betrachtung des „Staates als Lebens¬
form" geboren, wie sie Rudolf Kjellen in einem gleichnamigen unlängst er¬
schienenen Buche versucht (Hirzel, 1917). Der schwedische Gelehrte ist deutscher
Wissenschaft und wohl ebenso dem politisch interessierten Publikum kein Fremder
mehr. Auch seine Auffassung des Problems findet sich in früheren Schriften
schon angekündigt. Was er in den „Großmächten" und in den „Problemen
des Weltkrieges" (beide bei Teubner) an der Hand praktischer Experimente,
einmal unter statischen, das andere Mal unter dynamischen Gesichtspunkt
erprobt hat, soll nunmehr seine theoretische Zusammenfassung und Begründung
finden.

Der Titel des jüngsten Werkes ist programmatisch sür die Weltanschauung
des Verfassers. Georg Jellinek, dem die allgemeine Staatslehre eine weit
hervorragende Darstellung ihres reichen und schwierigen Stoffes verdankt, kommt
in seinen Ausführungen über das Wesen des Staates zu dem Ergebnis, daß
„der Gegensatz in den prinzipiellen Anschauungen von dieser Gemeinschaft zurück¬
zuführen ist auf den Gegensatz der beiden großen Weltanschauungen: der in-
dividualistisch-atomistischen und der kollektivistisch-universalistischen". Was be-
deutet diese Antithese? Auf die kürzeste Formel gebracht doch, ob man das
einzelne vor dem allgemeinen denkt — dieses „vor" im Zeit- und Wertsinn
genommen — oder umgekehrt; in einer für unser Beispiel fruchtbaren Kon¬
sequenz: ob man gewillt und imstande ist. zwischen den Einzelindividuen und
ihrer Summe, der Menschheit sich selbständige, überindividuelle, nicht bloß ab¬
strahierte Einheiten vorzustellen. Es ist neuerdings vorgeschlagen worden,
„Völker und Kulturen einzuteilen in solche mit universalistischem und andere
mit nominalistischem (individualistischen) Querschnitt" (von Siegfried Marck in
einer kleinen, gedankenreichen Schrift: „Deutsche Staatsgesinnung"). In
der Tat offenbart sich hier ein tiefer Gegensatz zwischen deutschen: und west¬
europäischem Geiste.

Der französische Philosoph Emile Boutroux spottet über die deutsche Staats¬
mystik, die im Staate „die höchste Verwirklichung des Göttlichen" erblicke;
Denys Cochin, sein Kollege von der Akademie, vergleicht sie mit dem Kult des
Hobbesschen Staatsgötzen „Leviathan" und der englische Bischof Weltton kenn¬
zeichnet diese ganze Denkungsart als philosophischen Unsinn. Warum tun sie
das? Weil sie als echte Nominalisten unfähig sind, im allgemeinen mehr zu
sehen als eine inhaltsleere Schöpfung der souveränen Individuen. (Rousseau
dachte universalistisch, als er aus dem Gesellschaftsverträge eine „as80Lmtlon"


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332712/263>, abgerufen am 27.05.2024.