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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr.

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Von dem Umsturz der wirtschaftlichen Theorien, mit Ausnahme des Funda¬
mentalsatzes von Angebot und Nachfrage, garnicht zu reden. Daß man die Valuta-
Angst, diese Bundesgenossin der Gaunerei, nicht ablegt, bis der verarmte Mittel¬
stand den letzten Groschen hergegeben hat, den er einmal nicht Dingen
opfern will, die der Behörde nicht als unentbehrlich erscheinen, gehört zum Bild
buser sonderbaren Zeit. Sie lassen sich nicht auf eine Formel bringen.

Seine Excellenz, der Herr Oberpräsident von Pommern, Dr, Michaelis,
hat es in einer Rede versucht, die er kürzlich in einem Harzftädtchen hielt Er sagt,
Gott habe uns die Prüfung geschickt, weil das Geld bei uns zu herrschen anfing.
Gott wollte uns vor völliger Matcrialisierung bewahren. Das ist die Formel des
früheren Reichskanzlers. Sie ist nicht neu und hat gegenüber andern Stärkungs¬
mitteln aus der großen Apotheke der Weltanschauungen den Vorteil der
ehrwürdigen Herkunft. Aber was so öffentlich ausgesprochen wird, muß sich
gefallen lassen, öffentlich kritisiert zu werden, und man kann nicht umhin,
einiges einzuwenden. Zum Beispiel: Hat die lange Prüfungszeit die Zeichen
der Besserung gebracht? Oder haben sich nicht gerade infolge der langen
Dauer der Prüfung Erscheinungen entwickelt, die eigentlich nach Abschluß
dieser Prüfung eine neue zur Wegläuterung der moralischen Kricgsschiiden nötig
machen würde? Um vieviel Prozent hat neu erwachter Materialismus die
Achtung vor Gesetzen sinken und die Zahl der Übertretungen steigen
lassen? Um wieviel ist gerade durch die wirtschaftlichen Verhältnisse des Krieges
die Gewinngier gestiegen? Wer macht nicht alles sein Kriegsgeschäft aus den
Schwierigkeiten der Zeit, wer will nicht schnell und viel verdienen an der Not¬
lage, die der Krieg geschaffen hat? Wuchern und schachern nicht Unzählige, die
vor dem Kriege mindestens nolens. wenn auch nicht volens auf dem geraden
Wege der geschäftlichen Tugend blieben? Nun kann man ja vom Standpunkt des
Bnßpredigers ergänzend die Theorie aufstellen, daß gerade die Zunahme dieser
Erscheinungen einen Teil der Prüfung bildet. Aber dann gerät man in eine Ver¬
wirrung sonderbarer Art, denn dann hätte die Prüfungszeit mehr Leute in die
Sünde getrieben, als von der Sünde befreit und es wäre, wie gesagt, nötig, die
Prüfung ins Unendliche zu verlängern, wobei sich aber die Vermehrung der aus
dem materialistischen Geist geborenen Sünde fortsetzen würde. Die Prüfung
selbst würde also die Notwendigkeit neuer Prüfungen verursachen. Es scheint,
daß die Bußpredigtformel nicht den Deckel bildet, der den Topf ganz zudeckt.
Und wenn wir den angenehmen Fall setzen, daß die Versorgung wieder normal
ist, die Gcnußgüter wieder zu haben sind, wird der Not-Aszet zum freiwilligen
Mäßigkeitsapostel gewandelt sein? Wird, wer so lange entbehrt hat. nun am
Becher der gewöhnlichen Freuden nur nippen? Wird sich, wo sich jetzt der
trockene Exerzierplatz der Entsagung dehnt, kein Sumpf mehr bilden? Ich glaube,
es wird sozusagen und einigermaßen das Gegenteil der Fall sein und auch nach
dieser Seite hin wird die Formel der Prüfung mir sehr unvollkommen stimmen.

Nein, eS scheint, diese Zeit läßt sich nicht auf eine Formel bringen. Das
Kleine und das Große, das Herrliche und das Miserable, das Hohe und das
Niedrige ist darin, wie in den Menschen, gemischt und wird gemischt bleiben.
Wohl dem, der ein kräftiges regulatives Prinzip hat, das ihn bei der Stange der
Anständigkeit hält und ihm die beruhigende Auslegung der Geschehnisse liefert.
Die meisten Leute sind mit ihrer Philosophie so in Unordnung geraten, wie mit
ihrer Verdauung, verfallen leicht in Paragraphenübertretung und sehr viele Zwangs-
aszeteu haben sich schon vorgenommen, wenn die Zeiten wieder besser werden,
einmal so materialistisch zu sein, wie sie es zwei Jahre lang nicht sein konnten.
Inzwischen genügt uns die Überzeugung, daß in der Abwehr einer systematisch
auf unsere Unterdrückung eingestellten Politik wie draußen so drinnen ein tapferer
Kampf ohne Nachlassen gekämpft werden und dabei auch allerlei moralisch Schlimmes,
das der Vulkan der Zeit ausspeit, ertragen werden muß. Ein Trost ist, daß die
Zeit auch viel praktisches Christentum hat lebendig werden lassen, ausgeübt von
Leuten, die gar nicht mehr recht wissen, wie eine Kirche von innen aussieht.


Randglossen zum Tage

Von dem Umsturz der wirtschaftlichen Theorien, mit Ausnahme des Funda¬
mentalsatzes von Angebot und Nachfrage, garnicht zu reden. Daß man die Valuta-
Angst, diese Bundesgenossin der Gaunerei, nicht ablegt, bis der verarmte Mittel¬
stand den letzten Groschen hergegeben hat, den er einmal nicht Dingen
opfern will, die der Behörde nicht als unentbehrlich erscheinen, gehört zum Bild
buser sonderbaren Zeit. Sie lassen sich nicht auf eine Formel bringen.

Seine Excellenz, der Herr Oberpräsident von Pommern, Dr, Michaelis,
hat es in einer Rede versucht, die er kürzlich in einem Harzftädtchen hielt Er sagt,
Gott habe uns die Prüfung geschickt, weil das Geld bei uns zu herrschen anfing.
Gott wollte uns vor völliger Matcrialisierung bewahren. Das ist die Formel des
früheren Reichskanzlers. Sie ist nicht neu und hat gegenüber andern Stärkungs¬
mitteln aus der großen Apotheke der Weltanschauungen den Vorteil der
ehrwürdigen Herkunft. Aber was so öffentlich ausgesprochen wird, muß sich
gefallen lassen, öffentlich kritisiert zu werden, und man kann nicht umhin,
einiges einzuwenden. Zum Beispiel: Hat die lange Prüfungszeit die Zeichen
der Besserung gebracht? Oder haben sich nicht gerade infolge der langen
Dauer der Prüfung Erscheinungen entwickelt, die eigentlich nach Abschluß
dieser Prüfung eine neue zur Wegläuterung der moralischen Kricgsschiiden nötig
machen würde? Um vieviel Prozent hat neu erwachter Materialismus die
Achtung vor Gesetzen sinken und die Zahl der Übertretungen steigen
lassen? Um wieviel ist gerade durch die wirtschaftlichen Verhältnisse des Krieges
die Gewinngier gestiegen? Wer macht nicht alles sein Kriegsgeschäft aus den
Schwierigkeiten der Zeit, wer will nicht schnell und viel verdienen an der Not¬
lage, die der Krieg geschaffen hat? Wuchern und schachern nicht Unzählige, die
vor dem Kriege mindestens nolens. wenn auch nicht volens auf dem geraden
Wege der geschäftlichen Tugend blieben? Nun kann man ja vom Standpunkt des
Bnßpredigers ergänzend die Theorie aufstellen, daß gerade die Zunahme dieser
Erscheinungen einen Teil der Prüfung bildet. Aber dann gerät man in eine Ver¬
wirrung sonderbarer Art, denn dann hätte die Prüfungszeit mehr Leute in die
Sünde getrieben, als von der Sünde befreit und es wäre, wie gesagt, nötig, die
Prüfung ins Unendliche zu verlängern, wobei sich aber die Vermehrung der aus
dem materialistischen Geist geborenen Sünde fortsetzen würde. Die Prüfung
selbst würde also die Notwendigkeit neuer Prüfungen verursachen. Es scheint,
daß die Bußpredigtformel nicht den Deckel bildet, der den Topf ganz zudeckt.
Und wenn wir den angenehmen Fall setzen, daß die Versorgung wieder normal
ist, die Gcnußgüter wieder zu haben sind, wird der Not-Aszet zum freiwilligen
Mäßigkeitsapostel gewandelt sein? Wird, wer so lange entbehrt hat. nun am
Becher der gewöhnlichen Freuden nur nippen? Wird sich, wo sich jetzt der
trockene Exerzierplatz der Entsagung dehnt, kein Sumpf mehr bilden? Ich glaube,
es wird sozusagen und einigermaßen das Gegenteil der Fall sein und auch nach
dieser Seite hin wird die Formel der Prüfung mir sehr unvollkommen stimmen.

Nein, eS scheint, diese Zeit läßt sich nicht auf eine Formel bringen. Das
Kleine und das Große, das Herrliche und das Miserable, das Hohe und das
Niedrige ist darin, wie in den Menschen, gemischt und wird gemischt bleiben.
Wohl dem, der ein kräftiges regulatives Prinzip hat, das ihn bei der Stange der
Anständigkeit hält und ihm die beruhigende Auslegung der Geschehnisse liefert.
Die meisten Leute sind mit ihrer Philosophie so in Unordnung geraten, wie mit
ihrer Verdauung, verfallen leicht in Paragraphenübertretung und sehr viele Zwangs-
aszeteu haben sich schon vorgenommen, wenn die Zeiten wieder besser werden,
einmal so materialistisch zu sein, wie sie es zwei Jahre lang nicht sein konnten.
Inzwischen genügt uns die Überzeugung, daß in der Abwehr einer systematisch
auf unsere Unterdrückung eingestellten Politik wie draußen so drinnen ein tapferer
Kampf ohne Nachlassen gekämpft werden und dabei auch allerlei moralisch Schlimmes,
das der Vulkan der Zeit ausspeit, ertragen werden muß. Ein Trost ist, daß die
Zeit auch viel praktisches Christentum hat lebendig werden lassen, ausgeübt von
Leuten, die gar nicht mehr recht wissen, wie eine Kirche von innen aussieht.


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[0060] Randglossen zum Tage Von dem Umsturz der wirtschaftlichen Theorien, mit Ausnahme des Funda¬ mentalsatzes von Angebot und Nachfrage, garnicht zu reden. Daß man die Valuta- Angst, diese Bundesgenossin der Gaunerei, nicht ablegt, bis der verarmte Mittel¬ stand den letzten Groschen hergegeben hat, den er einmal nicht Dingen opfern will, die der Behörde nicht als unentbehrlich erscheinen, gehört zum Bild buser sonderbaren Zeit. Sie lassen sich nicht auf eine Formel bringen. Seine Excellenz, der Herr Oberpräsident von Pommern, Dr, Michaelis, hat es in einer Rede versucht, die er kürzlich in einem Harzftädtchen hielt Er sagt, Gott habe uns die Prüfung geschickt, weil das Geld bei uns zu herrschen anfing. Gott wollte uns vor völliger Matcrialisierung bewahren. Das ist die Formel des früheren Reichskanzlers. Sie ist nicht neu und hat gegenüber andern Stärkungs¬ mitteln aus der großen Apotheke der Weltanschauungen den Vorteil der ehrwürdigen Herkunft. Aber was so öffentlich ausgesprochen wird, muß sich gefallen lassen, öffentlich kritisiert zu werden, und man kann nicht umhin, einiges einzuwenden. Zum Beispiel: Hat die lange Prüfungszeit die Zeichen der Besserung gebracht? Oder haben sich nicht gerade infolge der langen Dauer der Prüfung Erscheinungen entwickelt, die eigentlich nach Abschluß dieser Prüfung eine neue zur Wegläuterung der moralischen Kricgsschiiden nötig machen würde? Um vieviel Prozent hat neu erwachter Materialismus die Achtung vor Gesetzen sinken und die Zahl der Übertretungen steigen lassen? Um wieviel ist gerade durch die wirtschaftlichen Verhältnisse des Krieges die Gewinngier gestiegen? Wer macht nicht alles sein Kriegsgeschäft aus den Schwierigkeiten der Zeit, wer will nicht schnell und viel verdienen an der Not¬ lage, die der Krieg geschaffen hat? Wuchern und schachern nicht Unzählige, die vor dem Kriege mindestens nolens. wenn auch nicht volens auf dem geraden Wege der geschäftlichen Tugend blieben? Nun kann man ja vom Standpunkt des Bnßpredigers ergänzend die Theorie aufstellen, daß gerade die Zunahme dieser Erscheinungen einen Teil der Prüfung bildet. Aber dann gerät man in eine Ver¬ wirrung sonderbarer Art, denn dann hätte die Prüfungszeit mehr Leute in die Sünde getrieben, als von der Sünde befreit und es wäre, wie gesagt, nötig, die Prüfung ins Unendliche zu verlängern, wobei sich aber die Vermehrung der aus dem materialistischen Geist geborenen Sünde fortsetzen würde. Die Prüfung selbst würde also die Notwendigkeit neuer Prüfungen verursachen. Es scheint, daß die Bußpredigtformel nicht den Deckel bildet, der den Topf ganz zudeckt. Und wenn wir den angenehmen Fall setzen, daß die Versorgung wieder normal ist, die Gcnußgüter wieder zu haben sind, wird der Not-Aszet zum freiwilligen Mäßigkeitsapostel gewandelt sein? Wird, wer so lange entbehrt hat. nun am Becher der gewöhnlichen Freuden nur nippen? Wird sich, wo sich jetzt der trockene Exerzierplatz der Entsagung dehnt, kein Sumpf mehr bilden? Ich glaube, es wird sozusagen und einigermaßen das Gegenteil der Fall sein und auch nach dieser Seite hin wird die Formel der Prüfung mir sehr unvollkommen stimmen. Nein, eS scheint, diese Zeit läßt sich nicht auf eine Formel bringen. Das Kleine und das Große, das Herrliche und das Miserable, das Hohe und das Niedrige ist darin, wie in den Menschen, gemischt und wird gemischt bleiben. Wohl dem, der ein kräftiges regulatives Prinzip hat, das ihn bei der Stange der Anständigkeit hält und ihm die beruhigende Auslegung der Geschehnisse liefert. Die meisten Leute sind mit ihrer Philosophie so in Unordnung geraten, wie mit ihrer Verdauung, verfallen leicht in Paragraphenübertretung und sehr viele Zwangs- aszeteu haben sich schon vorgenommen, wenn die Zeiten wieder besser werden, einmal so materialistisch zu sein, wie sie es zwei Jahre lang nicht sein konnten. Inzwischen genügt uns die Überzeugung, daß in der Abwehr einer systematisch auf unsere Unterdrückung eingestellten Politik wie draußen so drinnen ein tapferer Kampf ohne Nachlassen gekämpft werden und dabei auch allerlei moralisch Schlimmes, das der Vulkan der Zeit ausspeit, ertragen werden muß. Ein Trost ist, daß die Zeit auch viel praktisches Christentum hat lebendig werden lassen, ausgeübt von Leuten, die gar nicht mehr recht wissen, wie eine Kirche von innen aussieht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333482/60>, abgerufen am 18.05.2024.