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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr.

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Das Staatstheater

zur Beachtung. Richard Wagner verteidigte ihn eifrig gegen die Angriffe von
feiten der Vertreter der Theatergewerbefreiheit. Hatte er doch selbst, von ähnlichen
Ideen erfüllt, fast gleichzeitig seinen bekannten "Entwurf zur Organisation eines
deutschen Nationaltheaters für das Königreich Sachsen" ausgearbeitet, der sich in
den prinzipiellen Gedanken ganz mit dem Devrienischen Programm deckte. Der
Verwirklichung der Reform im angedeutete" Sinne schien nichts mehr im Wege
zu stehen. Schon war es gelungen, Friedrich Wilhelm den Vierten dafür zu
gewinnen, als die einsetzende politische Reaktion mit so mancher segensreichen
Neuerung auch die beabsichtigte Theaterrcform vereitelte. Die allmählige Stagnation
des öffentlichen Lebens trieb auch das Theater wieder in die gewohnten Bahnen.
Wie ein Hohn auf das Fehlschlagen der großen nationalen Hoffnungen mochte
es erscheinen, als sich Devrient bald darauf Gelegenheit bot, die Lebenskraft seiner
viel gescholtenen "Utopie" praktisch zu erweisen. Unter dein Schutze eines hoch¬
sinnigen Fürsten gelang es ihm, seine Grundsätze zu williger Anerkennung zu
bringen und das Karlsruher Hoftheater zu einer Musterbühne und einer Hoch¬
schule des guten Geschmacks zu erheben.

Das Staatstheater ist bis auf den heutigen Tag Gedanke und Anregung
geblieben. Ein und der andere Versuch, das Projekt Devrients wieder aufzunehmen,
wie er im Zusammenhang mit der Begründung der deutschen Einheit in den siebziger
Jahren von Georg Köberle und anderen unternommen wurde, traf auf unfrucht¬
baren Boden. Als Eduard Devrient und Richard Wagner ihre Reform entwürfe
begruben, konnten sie nicht ahnen, daß siebzig Jahre später dieselbe Konstellation
sich noch einmal wiederholen würde, die sie so freudig als den Morgen einer
neuen Zeit begrüßten, und daß Ideen, für die sie so tapfer, aber sieglos gekämpft
hatten, noch einmal zu frischem Leben erwachen und von "zeitgemäßen und all¬
gemein deutschem Interesse" sein würden. Wieder und eindringlicher als je
bieten sich heute alle Kräfte und Fähigkeiten der Nation zu einem erhöhten Kultur¬
leben an, wieder soll das neue Deutschland Wirklichkeit werden. Ob dabei auch
das Nationaltheater aus seine Rechnung kommt? Wir hoffen es sehnlichst und
sind dabei mit Immermann des Glaubens, "daß die Palingenesie der deutschen
Bühne, wenn sie noch einmal erfolgen soll, keineswegs von einer zu entdeckenden neuen
Weisheit, sondern von Entschließungen moralischer Art abhängig sein möchte."
Reformen, wie die hier gemeinten, setzen auf jeden Fall ein Maß von Verständ¬
nis für nationale Kulturciufgaben voraus, das uns bis jetzt noch immer fehlt.
Wir sind heute, so wenig wie in Lessings Tagen eine Nation, die diesen Namen
führt als den Ausdruck ihrer höchsten Freiheit. Noch immer stehen weite Kreise
unseres Volkes abseits von den verantwortungsvollen Aufgaben des Gemein¬
schaftslebens. Die Kunst hat jederzeit am meisten darunter zu leiden gehabt.
Die atomistische Verfassung der modernen Gesellschaft war ihrem Gedeihen nicht
günstig. Schillers Wort, dus die Beschäftigung mit ästhetischen Problemen mehr
dem Geschmack als dem Bedürfnis seiner Zeit fremd sei, gilt auch heute noch un¬
eingeschränkt. Der Weg, den wir zu gehen haben, ist uns klar genug gezeichnet.
Wieder wird an einem entscheidenden Einschnitt der geschichtlichen Entwicklung
das Heilmittel gereicht, durch das der moderne Mensch hoffen darf, einer unheil¬
vollen Dienstbarkeit entzogen zu werden, die alle seine Lebensverhältnisse durch¬
setzt hat. Der Kunst, und nicht zum wenigsten der theatralischen Kunst, ist die
Aufgabe gewiesen, den sozialen Drang seine edelste Bedeutung erkennen zu lassen,
ihm seine wahre Richtung zu zeigen. Kunst und soziale Bewegung haben das
gleiche Ziel, den Staat der Not mit dem Vernunftstaat zu vertauschen, in dem
sich die Totalität der menschlichen Kräfte vollendet. Der Staat, der sich gründet
auf den Sieg der Nevolutivnsidee, hat, wenn er sich durchsetzen und behaupten
will, die "moralische Entschließung" zu fassen, die Kunst und ganz besonders das
Theater als moralische Anstalt in den Kreis seiner Aufgaben einzuschließen.




Das Staatstheater

zur Beachtung. Richard Wagner verteidigte ihn eifrig gegen die Angriffe von
feiten der Vertreter der Theatergewerbefreiheit. Hatte er doch selbst, von ähnlichen
Ideen erfüllt, fast gleichzeitig seinen bekannten „Entwurf zur Organisation eines
deutschen Nationaltheaters für das Königreich Sachsen" ausgearbeitet, der sich in
den prinzipiellen Gedanken ganz mit dem Devrienischen Programm deckte. Der
Verwirklichung der Reform im angedeutete» Sinne schien nichts mehr im Wege
zu stehen. Schon war es gelungen, Friedrich Wilhelm den Vierten dafür zu
gewinnen, als die einsetzende politische Reaktion mit so mancher segensreichen
Neuerung auch die beabsichtigte Theaterrcform vereitelte. Die allmählige Stagnation
des öffentlichen Lebens trieb auch das Theater wieder in die gewohnten Bahnen.
Wie ein Hohn auf das Fehlschlagen der großen nationalen Hoffnungen mochte
es erscheinen, als sich Devrient bald darauf Gelegenheit bot, die Lebenskraft seiner
viel gescholtenen „Utopie" praktisch zu erweisen. Unter dein Schutze eines hoch¬
sinnigen Fürsten gelang es ihm, seine Grundsätze zu williger Anerkennung zu
bringen und das Karlsruher Hoftheater zu einer Musterbühne und einer Hoch¬
schule des guten Geschmacks zu erheben.

Das Staatstheater ist bis auf den heutigen Tag Gedanke und Anregung
geblieben. Ein und der andere Versuch, das Projekt Devrients wieder aufzunehmen,
wie er im Zusammenhang mit der Begründung der deutschen Einheit in den siebziger
Jahren von Georg Köberle und anderen unternommen wurde, traf auf unfrucht¬
baren Boden. Als Eduard Devrient und Richard Wagner ihre Reform entwürfe
begruben, konnten sie nicht ahnen, daß siebzig Jahre später dieselbe Konstellation
sich noch einmal wiederholen würde, die sie so freudig als den Morgen einer
neuen Zeit begrüßten, und daß Ideen, für die sie so tapfer, aber sieglos gekämpft
hatten, noch einmal zu frischem Leben erwachen und von „zeitgemäßen und all¬
gemein deutschem Interesse" sein würden. Wieder und eindringlicher als je
bieten sich heute alle Kräfte und Fähigkeiten der Nation zu einem erhöhten Kultur¬
leben an, wieder soll das neue Deutschland Wirklichkeit werden. Ob dabei auch
das Nationaltheater aus seine Rechnung kommt? Wir hoffen es sehnlichst und
sind dabei mit Immermann des Glaubens, „daß die Palingenesie der deutschen
Bühne, wenn sie noch einmal erfolgen soll, keineswegs von einer zu entdeckenden neuen
Weisheit, sondern von Entschließungen moralischer Art abhängig sein möchte."
Reformen, wie die hier gemeinten, setzen auf jeden Fall ein Maß von Verständ¬
nis für nationale Kulturciufgaben voraus, das uns bis jetzt noch immer fehlt.
Wir sind heute, so wenig wie in Lessings Tagen eine Nation, die diesen Namen
führt als den Ausdruck ihrer höchsten Freiheit. Noch immer stehen weite Kreise
unseres Volkes abseits von den verantwortungsvollen Aufgaben des Gemein¬
schaftslebens. Die Kunst hat jederzeit am meisten darunter zu leiden gehabt.
Die atomistische Verfassung der modernen Gesellschaft war ihrem Gedeihen nicht
günstig. Schillers Wort, dus die Beschäftigung mit ästhetischen Problemen mehr
dem Geschmack als dem Bedürfnis seiner Zeit fremd sei, gilt auch heute noch un¬
eingeschränkt. Der Weg, den wir zu gehen haben, ist uns klar genug gezeichnet.
Wieder wird an einem entscheidenden Einschnitt der geschichtlichen Entwicklung
das Heilmittel gereicht, durch das der moderne Mensch hoffen darf, einer unheil¬
vollen Dienstbarkeit entzogen zu werden, die alle seine Lebensverhältnisse durch¬
setzt hat. Der Kunst, und nicht zum wenigsten der theatralischen Kunst, ist die
Aufgabe gewiesen, den sozialen Drang seine edelste Bedeutung erkennen zu lassen,
ihm seine wahre Richtung zu zeigen. Kunst und soziale Bewegung haben das
gleiche Ziel, den Staat der Not mit dem Vernunftstaat zu vertauschen, in dem
sich die Totalität der menschlichen Kräfte vollendet. Der Staat, der sich gründet
auf den Sieg der Nevolutivnsidee, hat, wenn er sich durchsetzen und behaupten
will, die „moralische Entschließung" zu fassen, die Kunst und ganz besonders das
Theater als moralische Anstalt in den Kreis seiner Aufgaben einzuschließen.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/222>, abgerufen am 15.05.2024.