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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr.

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Zur Psychologie des deutschen Bolschewismus

Triumphgefühl heraus, "es damals besser gewußt zu haben", sondern lediglich
um zu beweisen, daß der vielseitige Ideen- und Gefühlskomplex, den man jetzt
Bolschewismus nennt, im Keim schon lange vor der Revolution bestanden hat
und als eine unausbleibliche Begleiterscheinung des Krieges aufgefaßt werden
muß. Der Bolschewismus ist keine Theorie, 'die man in alten Büchern und
Manifesten von Marx oder Engel nachschlagen kann, er ist auch alles andere als
eine bloße Nachahmung des russischen Bolschewismus, er ist -- darüber wird
man sich nach der jüngsten Bewegung hoffentlich endlich klar sein -- keine künst¬
liche, durch ein paar Agitatoren hervorgerufene Hetze, sondern muß betrachtet
werden als die geistige Krankheit eines Volkes, das vier Jahre unter Anspannung
und teilweiser Überspannung seiner physischen und moralischen Kräfte Krieg ge¬
führt und ihn, was die Krisis der Krankheit allerdings beschleunigt und besmr-
ders heftig macht, am Ende verloren hat.

Die beiden Hauptcharakterzüge dieses Krankheitsbildes nun sind unstreitig
allgemeine Arbeitunlust und weitgehende Disziplinlosigkeit. Letztere äußert sich
vor allem in ungemessener Begehrlichkeit, Unzuverlässigkeit, Untreue, Sensations¬
lust, Hang zu Gewalttaten, ständiger dumpfer Gereiztheit, Widerspruchsgeist und
Lust zu tyrannisieren und andrere zu unterdrücken. '

Will man die Krankheit -- falls sie heilbar ist! -- heilen, so wird mein
Wohl oder übel der Herkunft dieser Symptome nachspüren müssen. Auch dabei
werden wir uns vorteilhaft das sachte und objektive Verfahren des Arztes zum
Muster nehmen, der weder über Kranken noch Krankheit in moralische Ent¬
rüstung verfällt, fondern klare Erkenntnis sucht und ohne Scheu auch vielleicht
unangenehme uno peinliche Dinge zur Sprache bringen muß, wenn sie dazu
dienen, den Zusammenhang aufzuklären.

Was zunächst die allgemeine Arbeitsunlust betrifft, so resultiert sie einmal
gewiß aus der bestehenden Unsicherheit und Ungewißheit aller Verhältnisse. So¬
dann aber auch aus der Gewöhnung des Krieges. Der Heimgekehrte hat die Ge¬
wohnheit angenommen, Dienst zu tun. Dieser Dienst wär je nach Lage der
Dinge anstrengend, gefährlich, aufreibend, anspruchsvoll, aber er war Dienst und
unterschied sich, insofern es sich um Frontdienst handelte, von dem, was man
"Arbeit" zu nennen gewohnt war, durch Ungewöhnlichkeit, Unregelmäßigkeit,
ständige Veränderung, zeitweises Aussetzen und das absolut stereotype
des dabei erzielten Gewinns und sozusagen Einkommens. Ob man
in Gefahr gewesen war oder nicht, ob man am Tage sechzig Zentner
Balken geschleppt hatte oder zwei, alle bezogen gleiche' Löhnung,
gleiche Kleidung, gleiche Unterkunft.' Dazu kam die 'Anonymität der
Tätigkeit. Das Blockhaus, das man baute, den Unterstand, den man
verschalte, den Graben, den man aufwarf, bezogen nach zwei Wochen vielleicht
schon andere, und so sehr an manchen Stellen Kameradschaftlichkeit und Arbeits-
trieb das Drückende des Dienstes erleichterten, so unwillig stellte man an anderen
Stellen sest, daß von dem Mehr der eigenen Arbeitsleistung nur der Flaue und
Drückeberger profitierte und daß auch die beste und tüchtigste Arbeit dem Kriegs¬
leben nichts von seiner Beschwerlichkeit zu nehmen vermöchte. Die Folge war,
daß, wo nicht unmittelbare Not, oder den einzelnen ein besonders ungestümes
Arbeitstemverament drängte, die Leute sich, mindestens in der zweiten Hälfte des
Krieges, auf eine möglichst geringe Arbeitsleistung einstellten. Der Etappen-
und Garnisondienst vollends hat unendlich viel Leute verdorben und demorali¬
siert. Es ist nicht nötig, hier im einzelnen auf die Ursachen dieser Erscheinung einzu¬
gehen, jeder, der längere Zeit mit offenen Augen in der Etappe gelebt hat, kennt
sie und die anderen werden sie nur schwer begreifen, weil sie sich nicht in das
Seelenleben des Etappenmannes hineinzuversetzen imstande sind. Nur das sei
hier erörtert, daß, besonders seit dem Erscheinen der gut und reichlich bezahlten
Hilfsdienstpflichtigen und Helferinnen, fast jeder auf dem Standpunkt stand, daß
für die kümmerlichen 53 oder 77 Pfennig Löhnung am Tage so wenig wie mög¬
lich zu leisten gewissermaßen Ehrenpflicht war. Auch hier wurde nicht gearbeitet,
sondern nur Dienst getan, ein Dienst, der unvermeidlicherweise nicht dazu an-


Zur Psychologie des deutschen Bolschewismus

Triumphgefühl heraus, „es damals besser gewußt zu haben", sondern lediglich
um zu beweisen, daß der vielseitige Ideen- und Gefühlskomplex, den man jetzt
Bolschewismus nennt, im Keim schon lange vor der Revolution bestanden hat
und als eine unausbleibliche Begleiterscheinung des Krieges aufgefaßt werden
muß. Der Bolschewismus ist keine Theorie, 'die man in alten Büchern und
Manifesten von Marx oder Engel nachschlagen kann, er ist auch alles andere als
eine bloße Nachahmung des russischen Bolschewismus, er ist — darüber wird
man sich nach der jüngsten Bewegung hoffentlich endlich klar sein — keine künst¬
liche, durch ein paar Agitatoren hervorgerufene Hetze, sondern muß betrachtet
werden als die geistige Krankheit eines Volkes, das vier Jahre unter Anspannung
und teilweiser Überspannung seiner physischen und moralischen Kräfte Krieg ge¬
führt und ihn, was die Krisis der Krankheit allerdings beschleunigt und besmr-
ders heftig macht, am Ende verloren hat.

Die beiden Hauptcharakterzüge dieses Krankheitsbildes nun sind unstreitig
allgemeine Arbeitunlust und weitgehende Disziplinlosigkeit. Letztere äußert sich
vor allem in ungemessener Begehrlichkeit, Unzuverlässigkeit, Untreue, Sensations¬
lust, Hang zu Gewalttaten, ständiger dumpfer Gereiztheit, Widerspruchsgeist und
Lust zu tyrannisieren und andrere zu unterdrücken. '

Will man die Krankheit — falls sie heilbar ist! — heilen, so wird mein
Wohl oder übel der Herkunft dieser Symptome nachspüren müssen. Auch dabei
werden wir uns vorteilhaft das sachte und objektive Verfahren des Arztes zum
Muster nehmen, der weder über Kranken noch Krankheit in moralische Ent¬
rüstung verfällt, fondern klare Erkenntnis sucht und ohne Scheu auch vielleicht
unangenehme uno peinliche Dinge zur Sprache bringen muß, wenn sie dazu
dienen, den Zusammenhang aufzuklären.

Was zunächst die allgemeine Arbeitsunlust betrifft, so resultiert sie einmal
gewiß aus der bestehenden Unsicherheit und Ungewißheit aller Verhältnisse. So¬
dann aber auch aus der Gewöhnung des Krieges. Der Heimgekehrte hat die Ge¬
wohnheit angenommen, Dienst zu tun. Dieser Dienst wär je nach Lage der
Dinge anstrengend, gefährlich, aufreibend, anspruchsvoll, aber er war Dienst und
unterschied sich, insofern es sich um Frontdienst handelte, von dem, was man
„Arbeit" zu nennen gewohnt war, durch Ungewöhnlichkeit, Unregelmäßigkeit,
ständige Veränderung, zeitweises Aussetzen und das absolut stereotype
des dabei erzielten Gewinns und sozusagen Einkommens. Ob man
in Gefahr gewesen war oder nicht, ob man am Tage sechzig Zentner
Balken geschleppt hatte oder zwei, alle bezogen gleiche' Löhnung,
gleiche Kleidung, gleiche Unterkunft.' Dazu kam die 'Anonymität der
Tätigkeit. Das Blockhaus, das man baute, den Unterstand, den man
verschalte, den Graben, den man aufwarf, bezogen nach zwei Wochen vielleicht
schon andere, und so sehr an manchen Stellen Kameradschaftlichkeit und Arbeits-
trieb das Drückende des Dienstes erleichterten, so unwillig stellte man an anderen
Stellen sest, daß von dem Mehr der eigenen Arbeitsleistung nur der Flaue und
Drückeberger profitierte und daß auch die beste und tüchtigste Arbeit dem Kriegs¬
leben nichts von seiner Beschwerlichkeit zu nehmen vermöchte. Die Folge war,
daß, wo nicht unmittelbare Not, oder den einzelnen ein besonders ungestümes
Arbeitstemverament drängte, die Leute sich, mindestens in der zweiten Hälfte des
Krieges, auf eine möglichst geringe Arbeitsleistung einstellten. Der Etappen-
und Garnisondienst vollends hat unendlich viel Leute verdorben und demorali¬
siert. Es ist nicht nötig, hier im einzelnen auf die Ursachen dieser Erscheinung einzu¬
gehen, jeder, der längere Zeit mit offenen Augen in der Etappe gelebt hat, kennt
sie und die anderen werden sie nur schwer begreifen, weil sie sich nicht in das
Seelenleben des Etappenmannes hineinzuversetzen imstande sind. Nur das sei
hier erörtert, daß, besonders seit dem Erscheinen der gut und reichlich bezahlten
Hilfsdienstpflichtigen und Helferinnen, fast jeder auf dem Standpunkt stand, daß
für die kümmerlichen 53 oder 77 Pfennig Löhnung am Tage so wenig wie mög¬
lich zu leisten gewissermaßen Ehrenpflicht war. Auch hier wurde nicht gearbeitet,
sondern nur Dienst getan, ein Dienst, der unvermeidlicherweise nicht dazu an-


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[0028] Zur Psychologie des deutschen Bolschewismus Triumphgefühl heraus, „es damals besser gewußt zu haben", sondern lediglich um zu beweisen, daß der vielseitige Ideen- und Gefühlskomplex, den man jetzt Bolschewismus nennt, im Keim schon lange vor der Revolution bestanden hat und als eine unausbleibliche Begleiterscheinung des Krieges aufgefaßt werden muß. Der Bolschewismus ist keine Theorie, 'die man in alten Büchern und Manifesten von Marx oder Engel nachschlagen kann, er ist auch alles andere als eine bloße Nachahmung des russischen Bolschewismus, er ist — darüber wird man sich nach der jüngsten Bewegung hoffentlich endlich klar sein — keine künst¬ liche, durch ein paar Agitatoren hervorgerufene Hetze, sondern muß betrachtet werden als die geistige Krankheit eines Volkes, das vier Jahre unter Anspannung und teilweiser Überspannung seiner physischen und moralischen Kräfte Krieg ge¬ führt und ihn, was die Krisis der Krankheit allerdings beschleunigt und besmr- ders heftig macht, am Ende verloren hat. Die beiden Hauptcharakterzüge dieses Krankheitsbildes nun sind unstreitig allgemeine Arbeitunlust und weitgehende Disziplinlosigkeit. Letztere äußert sich vor allem in ungemessener Begehrlichkeit, Unzuverlässigkeit, Untreue, Sensations¬ lust, Hang zu Gewalttaten, ständiger dumpfer Gereiztheit, Widerspruchsgeist und Lust zu tyrannisieren und andrere zu unterdrücken. ' Will man die Krankheit — falls sie heilbar ist! — heilen, so wird mein Wohl oder übel der Herkunft dieser Symptome nachspüren müssen. Auch dabei werden wir uns vorteilhaft das sachte und objektive Verfahren des Arztes zum Muster nehmen, der weder über Kranken noch Krankheit in moralische Ent¬ rüstung verfällt, fondern klare Erkenntnis sucht und ohne Scheu auch vielleicht unangenehme uno peinliche Dinge zur Sprache bringen muß, wenn sie dazu dienen, den Zusammenhang aufzuklären. Was zunächst die allgemeine Arbeitsunlust betrifft, so resultiert sie einmal gewiß aus der bestehenden Unsicherheit und Ungewißheit aller Verhältnisse. So¬ dann aber auch aus der Gewöhnung des Krieges. Der Heimgekehrte hat die Ge¬ wohnheit angenommen, Dienst zu tun. Dieser Dienst wär je nach Lage der Dinge anstrengend, gefährlich, aufreibend, anspruchsvoll, aber er war Dienst und unterschied sich, insofern es sich um Frontdienst handelte, von dem, was man „Arbeit" zu nennen gewohnt war, durch Ungewöhnlichkeit, Unregelmäßigkeit, ständige Veränderung, zeitweises Aussetzen und das absolut stereotype des dabei erzielten Gewinns und sozusagen Einkommens. Ob man in Gefahr gewesen war oder nicht, ob man am Tage sechzig Zentner Balken geschleppt hatte oder zwei, alle bezogen gleiche' Löhnung, gleiche Kleidung, gleiche Unterkunft.' Dazu kam die 'Anonymität der Tätigkeit. Das Blockhaus, das man baute, den Unterstand, den man verschalte, den Graben, den man aufwarf, bezogen nach zwei Wochen vielleicht schon andere, und so sehr an manchen Stellen Kameradschaftlichkeit und Arbeits- trieb das Drückende des Dienstes erleichterten, so unwillig stellte man an anderen Stellen sest, daß von dem Mehr der eigenen Arbeitsleistung nur der Flaue und Drückeberger profitierte und daß auch die beste und tüchtigste Arbeit dem Kriegs¬ leben nichts von seiner Beschwerlichkeit zu nehmen vermöchte. Die Folge war, daß, wo nicht unmittelbare Not, oder den einzelnen ein besonders ungestümes Arbeitstemverament drängte, die Leute sich, mindestens in der zweiten Hälfte des Krieges, auf eine möglichst geringe Arbeitsleistung einstellten. Der Etappen- und Garnisondienst vollends hat unendlich viel Leute verdorben und demorali¬ siert. Es ist nicht nötig, hier im einzelnen auf die Ursachen dieser Erscheinung einzu¬ gehen, jeder, der längere Zeit mit offenen Augen in der Etappe gelebt hat, kennt sie und die anderen werden sie nur schwer begreifen, weil sie sich nicht in das Seelenleben des Etappenmannes hineinzuversetzen imstande sind. Nur das sei hier erörtert, daß, besonders seit dem Erscheinen der gut und reichlich bezahlten Hilfsdienstpflichtigen und Helferinnen, fast jeder auf dem Standpunkt stand, daß für die kümmerlichen 53 oder 77 Pfennig Löhnung am Tage so wenig wie mög¬ lich zu leisten gewissermaßen Ehrenpflicht war. Auch hier wurde nicht gearbeitet, sondern nur Dienst getan, ein Dienst, der unvermeidlicherweise nicht dazu an-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/28>, abgerufen am 15.05.2024.