Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Aristokratische und demokratische Bildungsbegrisse

als die Forderung gleichen Besitzes aller Menschen. Sie findet daher heute auch
bei Demokraten kaum noch Verteidiger.

Dringen wir nun durch solche Entstellungen bis auf den Kern der aristo¬
kratischen und demokratischen Bildungsbegriffe, so enthüllt sich in beiden ein
Wahrheitsgehalt, der durchaus der Verschmelzung fähig ist. Finden sich doch
beide Triebe ursprünglich in jedem Geiste angelegt. Jeder Mensch hat insofern
etwas Aristokratisches, als er sich als einzig in seiner Art empfindet und sich von
andern unterscheiden und abheben möchte: aristokratisches Wesen kennzeichnet sich
durch das Gefühl des Abstandes von andern, durch das "Pathos der
Distanz". Die Wurzel demokratischer Gesinnung liegt dagegen in dem Bewußtsein
der Übereinstimmung und der Gemeinsamkeit. Es ist klar, daß demokratische
Triebe und Masseninstinkte solange das Übergewicht über die aristokratischen be-
halten müssen, als gleiche Bedürfnisse und gemeinsame Not das Gefühl der Be¬
sonderheit und des Abstandes übertönen. Doch scheint das gleichzeitige Vor¬
handensein beider Triebe nicht auf gegenseitige Hemmung angelegt zu sein, sondern
auf ein ethisches Ziel hinzudeuten; und daS gilt wie für die Einzelpersönlichkeit so
auch für die Gemeinschaft, die Volkspersönlichkeit. Wir können daher den ein-
seitigen aristokratischen und demokratischen Bildungsbegriffen richtige gegenüberstellen,
die sich gegenseitig ergänzen und uns die Wege weisen, auf denen künftige Kultur¬
arbeit fortzuschreiten hat. Die demokratische Anschauung vertritt nun mit Recht
die Forderung, daß allen die Möglichkeit gegeben wird, sich ihren Anlagen ent¬
sprechend zu bilden, d. h. sie verlangt, daß die Bildungsmittel möglichst allen
gleichmäßig zugänglich sind. Der aristokratische Begriff aber betont mit gleichem
Rechte, daß alle Bildung den Menschen über den Durchschnitt emporhebt und daß
die so emporgestiegenen die Führer der anderen sein sollen.

Eine Vermittelung zwischen beiden Gegensätzen stellt auch der relative
Vildungsbegriff her, den schon Hebbel vertreten hat: "Gebildet ist jeder, der das
hat, was er für seinen Lebenskreis braucht. Was darüber ist, ist vom Übel."
Danach kann es in jedem, auch dem geringsten Stande gebildete Menschen geben,
wie es andererseits unter den sogenannten "Gebildeten" sehr viel Unbildung gibt.
Der "gebildete" Arbeiter steht nach diesem Maßstabe höher als der einseitige, welt¬
fremde Fachgelehrte. Denn Bildung hat nichts mit der Menge des angeeigneten
Wissens oder mit der gesellschaftlichen Stellung zu tun. Sie verlangt nur, daß
der Mensch in seinem Lebenskreise zuhause ist und sein Verhältnis zu Gesellschaft
und Welt erkennt. Streng genommen kann dann von höherer Bildung gar nicht
die Rede sein, da ein Mehr von Bildung leicht ein Zuviel wird und die innere
und äußere Harmonie des Menschen stört. Offenbar hat dieser Bildnngsbegriff
demokratischen Charakter, da er einen relativ gleichen Bildungsgrad aller Menschen
annimmt. Trotzdem schließt er die "höhere" Bildung nicht aus. Denn selbst
wenn alle Menschen die ihnen zukommende Stufe erreicht hätten, so umfaßt doch
eben der im Leben höhergestellte geistig eine viel weitere Welt als der in be¬
scheidenen Verhältnissen lebende. Er kann daher diesem zum Führer werden.
Und diese Führerschaft des höher Gebildeten ist eben der sittliche Kerngehalt des
aristokratischen Bildungsideals. Übrigens läßt sich der dem einzelnen oder einem
Stande angemessene Bildungsgrad schwerlich genau festsetzen', und ein über diese
relative "Normalbildung" hinausgehendes Streben ist gewiß nicht schlechthin zu
verwerfen, da es durchaus nicht notwendig zur Verbildung führen wird.

Daß eine Leitung durch überlegene Bildung notwendig ist, zeigt sich be¬
sonders an Erfahrungen im Kunstleben, wo sich das gute gegen den Geschmack
der Menge durchsetzen muß. Wie stände es um unser Konzert- und Theaterleben,
wenn die Auswahl der aufgeführten Werke von den Wünschen des Publikums
abhängig gemacht würde, dos hier doch durchweg den "gebildeten" Kreisen ange-
hoi-t? Strauß, Reger, Mahler, Psttzner oder Gerhard Hauptmann wären nie zu
Gehör gekommen. Das schlagendste Beispiel einer Kunst von unten aber bietet
das Lichtspieltheater, das ganz im Banne der Masseninstinkte steht und bisher
allen Bemühungen, es auf eine höhere Stufe emporzuheben, widerstanden hat.
Auch die sogenannte Kunstkarte, die Ansichtskarte mit Nachbildungen von Gemälden,


Aristokratische und demokratische Bildungsbegrisse

als die Forderung gleichen Besitzes aller Menschen. Sie findet daher heute auch
bei Demokraten kaum noch Verteidiger.

Dringen wir nun durch solche Entstellungen bis auf den Kern der aristo¬
kratischen und demokratischen Bildungsbegriffe, so enthüllt sich in beiden ein
Wahrheitsgehalt, der durchaus der Verschmelzung fähig ist. Finden sich doch
beide Triebe ursprünglich in jedem Geiste angelegt. Jeder Mensch hat insofern
etwas Aristokratisches, als er sich als einzig in seiner Art empfindet und sich von
andern unterscheiden und abheben möchte: aristokratisches Wesen kennzeichnet sich
durch das Gefühl des Abstandes von andern, durch das „Pathos der
Distanz". Die Wurzel demokratischer Gesinnung liegt dagegen in dem Bewußtsein
der Übereinstimmung und der Gemeinsamkeit. Es ist klar, daß demokratische
Triebe und Masseninstinkte solange das Übergewicht über die aristokratischen be-
halten müssen, als gleiche Bedürfnisse und gemeinsame Not das Gefühl der Be¬
sonderheit und des Abstandes übertönen. Doch scheint das gleichzeitige Vor¬
handensein beider Triebe nicht auf gegenseitige Hemmung angelegt zu sein, sondern
auf ein ethisches Ziel hinzudeuten; und daS gilt wie für die Einzelpersönlichkeit so
auch für die Gemeinschaft, die Volkspersönlichkeit. Wir können daher den ein-
seitigen aristokratischen und demokratischen Bildungsbegriffen richtige gegenüberstellen,
die sich gegenseitig ergänzen und uns die Wege weisen, auf denen künftige Kultur¬
arbeit fortzuschreiten hat. Die demokratische Anschauung vertritt nun mit Recht
die Forderung, daß allen die Möglichkeit gegeben wird, sich ihren Anlagen ent¬
sprechend zu bilden, d. h. sie verlangt, daß die Bildungsmittel möglichst allen
gleichmäßig zugänglich sind. Der aristokratische Begriff aber betont mit gleichem
Rechte, daß alle Bildung den Menschen über den Durchschnitt emporhebt und daß
die so emporgestiegenen die Führer der anderen sein sollen.

Eine Vermittelung zwischen beiden Gegensätzen stellt auch der relative
Vildungsbegriff her, den schon Hebbel vertreten hat: „Gebildet ist jeder, der das
hat, was er für seinen Lebenskreis braucht. Was darüber ist, ist vom Übel."
Danach kann es in jedem, auch dem geringsten Stande gebildete Menschen geben,
wie es andererseits unter den sogenannten „Gebildeten" sehr viel Unbildung gibt.
Der „gebildete" Arbeiter steht nach diesem Maßstabe höher als der einseitige, welt¬
fremde Fachgelehrte. Denn Bildung hat nichts mit der Menge des angeeigneten
Wissens oder mit der gesellschaftlichen Stellung zu tun. Sie verlangt nur, daß
der Mensch in seinem Lebenskreise zuhause ist und sein Verhältnis zu Gesellschaft
und Welt erkennt. Streng genommen kann dann von höherer Bildung gar nicht
die Rede sein, da ein Mehr von Bildung leicht ein Zuviel wird und die innere
und äußere Harmonie des Menschen stört. Offenbar hat dieser Bildnngsbegriff
demokratischen Charakter, da er einen relativ gleichen Bildungsgrad aller Menschen
annimmt. Trotzdem schließt er die „höhere" Bildung nicht aus. Denn selbst
wenn alle Menschen die ihnen zukommende Stufe erreicht hätten, so umfaßt doch
eben der im Leben höhergestellte geistig eine viel weitere Welt als der in be¬
scheidenen Verhältnissen lebende. Er kann daher diesem zum Führer werden.
Und diese Führerschaft des höher Gebildeten ist eben der sittliche Kerngehalt des
aristokratischen Bildungsideals. Übrigens läßt sich der dem einzelnen oder einem
Stande angemessene Bildungsgrad schwerlich genau festsetzen', und ein über diese
relative „Normalbildung" hinausgehendes Streben ist gewiß nicht schlechthin zu
verwerfen, da es durchaus nicht notwendig zur Verbildung führen wird.

Daß eine Leitung durch überlegene Bildung notwendig ist, zeigt sich be¬
sonders an Erfahrungen im Kunstleben, wo sich das gute gegen den Geschmack
der Menge durchsetzen muß. Wie stände es um unser Konzert- und Theaterleben,
wenn die Auswahl der aufgeführten Werke von den Wünschen des Publikums
abhängig gemacht würde, dos hier doch durchweg den „gebildeten" Kreisen ange-
hoi-t? Strauß, Reger, Mahler, Psttzner oder Gerhard Hauptmann wären nie zu
Gehör gekommen. Das schlagendste Beispiel einer Kunst von unten aber bietet
das Lichtspieltheater, das ganz im Banne der Masseninstinkte steht und bisher
allen Bemühungen, es auf eine höhere Stufe emporzuheben, widerstanden hat.
Auch die sogenannte Kunstkarte, die Ansichtskarte mit Nachbildungen von Gemälden,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0305" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/335717"/>
          <fw type="header" place="top"> Aristokratische und demokratische Bildungsbegrisse</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1293" prev="#ID_1292"> als die Forderung gleichen Besitzes aller Menschen. Sie findet daher heute auch<lb/>
bei Demokraten kaum noch Verteidiger.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1294"> Dringen wir nun durch solche Entstellungen bis auf den Kern der aristo¬<lb/>
kratischen und demokratischen Bildungsbegriffe, so enthüllt sich in beiden ein<lb/>
Wahrheitsgehalt, der durchaus der Verschmelzung fähig ist. Finden sich doch<lb/>
beide Triebe ursprünglich in jedem Geiste angelegt. Jeder Mensch hat insofern<lb/>
etwas Aristokratisches, als er sich als einzig in seiner Art empfindet und sich von<lb/>
andern unterscheiden und abheben möchte: aristokratisches Wesen kennzeichnet sich<lb/>
durch das Gefühl des Abstandes von andern, durch das &#x201E;Pathos der<lb/>
Distanz". Die Wurzel demokratischer Gesinnung liegt dagegen in dem Bewußtsein<lb/>
der Übereinstimmung und der Gemeinsamkeit. Es ist klar, daß demokratische<lb/>
Triebe und Masseninstinkte solange das Übergewicht über die aristokratischen be-<lb/>
halten müssen, als gleiche Bedürfnisse und gemeinsame Not das Gefühl der Be¬<lb/>
sonderheit und des Abstandes übertönen. Doch scheint das gleichzeitige Vor¬<lb/>
handensein beider Triebe nicht auf gegenseitige Hemmung angelegt zu sein, sondern<lb/>
auf ein ethisches Ziel hinzudeuten; und daS gilt wie für die Einzelpersönlichkeit so<lb/>
auch für die Gemeinschaft, die Volkspersönlichkeit. Wir können daher den ein-<lb/>
seitigen aristokratischen und demokratischen Bildungsbegriffen richtige gegenüberstellen,<lb/>
die sich gegenseitig ergänzen und uns die Wege weisen, auf denen künftige Kultur¬<lb/>
arbeit fortzuschreiten hat. Die demokratische Anschauung vertritt nun mit Recht<lb/>
die Forderung, daß allen die Möglichkeit gegeben wird, sich ihren Anlagen ent¬<lb/>
sprechend zu bilden, d. h. sie verlangt, daß die Bildungsmittel möglichst allen<lb/>
gleichmäßig zugänglich sind. Der aristokratische Begriff aber betont mit gleichem<lb/>
Rechte, daß alle Bildung den Menschen über den Durchschnitt emporhebt und daß<lb/>
die so emporgestiegenen die Führer der anderen sein sollen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1295"> Eine Vermittelung zwischen beiden Gegensätzen stellt auch der relative<lb/>
Vildungsbegriff her, den schon Hebbel vertreten hat: &#x201E;Gebildet ist jeder, der das<lb/>
hat, was er für seinen Lebenskreis braucht. Was darüber ist, ist vom Übel."<lb/>
Danach kann es in jedem, auch dem geringsten Stande gebildete Menschen geben,<lb/>
wie es andererseits unter den sogenannten &#x201E;Gebildeten" sehr viel Unbildung gibt.<lb/>
Der &#x201E;gebildete" Arbeiter steht nach diesem Maßstabe höher als der einseitige, welt¬<lb/>
fremde Fachgelehrte. Denn Bildung hat nichts mit der Menge des angeeigneten<lb/>
Wissens oder mit der gesellschaftlichen Stellung zu tun. Sie verlangt nur, daß<lb/>
der Mensch in seinem Lebenskreise zuhause ist und sein Verhältnis zu Gesellschaft<lb/>
und Welt erkennt. Streng genommen kann dann von höherer Bildung gar nicht<lb/>
die Rede sein, da ein Mehr von Bildung leicht ein Zuviel wird und die innere<lb/>
und äußere Harmonie des Menschen stört. Offenbar hat dieser Bildnngsbegriff<lb/>
demokratischen Charakter, da er einen relativ gleichen Bildungsgrad aller Menschen<lb/>
annimmt. Trotzdem schließt er die &#x201E;höhere" Bildung nicht aus. Denn selbst<lb/>
wenn alle Menschen die ihnen zukommende Stufe erreicht hätten, so umfaßt doch<lb/>
eben der im Leben höhergestellte geistig eine viel weitere Welt als der in be¬<lb/>
scheidenen Verhältnissen lebende. Er kann daher diesem zum Führer werden.<lb/>
Und diese Führerschaft des höher Gebildeten ist eben der sittliche Kerngehalt des<lb/>
aristokratischen Bildungsideals. Übrigens läßt sich der dem einzelnen oder einem<lb/>
Stande angemessene Bildungsgrad schwerlich genau festsetzen', und ein über diese<lb/>
relative &#x201E;Normalbildung" hinausgehendes Streben ist gewiß nicht schlechthin zu<lb/>
verwerfen, da es durchaus nicht notwendig zur Verbildung führen wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1296" next="#ID_1297"> Daß eine Leitung durch überlegene Bildung notwendig ist, zeigt sich be¬<lb/>
sonders an Erfahrungen im Kunstleben, wo sich das gute gegen den Geschmack<lb/>
der Menge durchsetzen muß. Wie stände es um unser Konzert- und Theaterleben,<lb/>
wenn die Auswahl der aufgeführten Werke von den Wünschen des Publikums<lb/>
abhängig gemacht würde, dos hier doch durchweg den &#x201E;gebildeten" Kreisen ange-<lb/>
hoi-t? Strauß, Reger, Mahler, Psttzner oder Gerhard Hauptmann wären nie zu<lb/>
Gehör gekommen. Das schlagendste Beispiel einer Kunst von unten aber bietet<lb/>
das Lichtspieltheater, das ganz im Banne der Masseninstinkte steht und bisher<lb/>
allen Bemühungen, es auf eine höhere Stufe emporzuheben, widerstanden hat.<lb/>
Auch die sogenannte Kunstkarte, die Ansichtskarte mit Nachbildungen von Gemälden,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0305] Aristokratische und demokratische Bildungsbegrisse als die Forderung gleichen Besitzes aller Menschen. Sie findet daher heute auch bei Demokraten kaum noch Verteidiger. Dringen wir nun durch solche Entstellungen bis auf den Kern der aristo¬ kratischen und demokratischen Bildungsbegriffe, so enthüllt sich in beiden ein Wahrheitsgehalt, der durchaus der Verschmelzung fähig ist. Finden sich doch beide Triebe ursprünglich in jedem Geiste angelegt. Jeder Mensch hat insofern etwas Aristokratisches, als er sich als einzig in seiner Art empfindet und sich von andern unterscheiden und abheben möchte: aristokratisches Wesen kennzeichnet sich durch das Gefühl des Abstandes von andern, durch das „Pathos der Distanz". Die Wurzel demokratischer Gesinnung liegt dagegen in dem Bewußtsein der Übereinstimmung und der Gemeinsamkeit. Es ist klar, daß demokratische Triebe und Masseninstinkte solange das Übergewicht über die aristokratischen be- halten müssen, als gleiche Bedürfnisse und gemeinsame Not das Gefühl der Be¬ sonderheit und des Abstandes übertönen. Doch scheint das gleichzeitige Vor¬ handensein beider Triebe nicht auf gegenseitige Hemmung angelegt zu sein, sondern auf ein ethisches Ziel hinzudeuten; und daS gilt wie für die Einzelpersönlichkeit so auch für die Gemeinschaft, die Volkspersönlichkeit. Wir können daher den ein- seitigen aristokratischen und demokratischen Bildungsbegriffen richtige gegenüberstellen, die sich gegenseitig ergänzen und uns die Wege weisen, auf denen künftige Kultur¬ arbeit fortzuschreiten hat. Die demokratische Anschauung vertritt nun mit Recht die Forderung, daß allen die Möglichkeit gegeben wird, sich ihren Anlagen ent¬ sprechend zu bilden, d. h. sie verlangt, daß die Bildungsmittel möglichst allen gleichmäßig zugänglich sind. Der aristokratische Begriff aber betont mit gleichem Rechte, daß alle Bildung den Menschen über den Durchschnitt emporhebt und daß die so emporgestiegenen die Führer der anderen sein sollen. Eine Vermittelung zwischen beiden Gegensätzen stellt auch der relative Vildungsbegriff her, den schon Hebbel vertreten hat: „Gebildet ist jeder, der das hat, was er für seinen Lebenskreis braucht. Was darüber ist, ist vom Übel." Danach kann es in jedem, auch dem geringsten Stande gebildete Menschen geben, wie es andererseits unter den sogenannten „Gebildeten" sehr viel Unbildung gibt. Der „gebildete" Arbeiter steht nach diesem Maßstabe höher als der einseitige, welt¬ fremde Fachgelehrte. Denn Bildung hat nichts mit der Menge des angeeigneten Wissens oder mit der gesellschaftlichen Stellung zu tun. Sie verlangt nur, daß der Mensch in seinem Lebenskreise zuhause ist und sein Verhältnis zu Gesellschaft und Welt erkennt. Streng genommen kann dann von höherer Bildung gar nicht die Rede sein, da ein Mehr von Bildung leicht ein Zuviel wird und die innere und äußere Harmonie des Menschen stört. Offenbar hat dieser Bildnngsbegriff demokratischen Charakter, da er einen relativ gleichen Bildungsgrad aller Menschen annimmt. Trotzdem schließt er die „höhere" Bildung nicht aus. Denn selbst wenn alle Menschen die ihnen zukommende Stufe erreicht hätten, so umfaßt doch eben der im Leben höhergestellte geistig eine viel weitere Welt als der in be¬ scheidenen Verhältnissen lebende. Er kann daher diesem zum Führer werden. Und diese Führerschaft des höher Gebildeten ist eben der sittliche Kerngehalt des aristokratischen Bildungsideals. Übrigens läßt sich der dem einzelnen oder einem Stande angemessene Bildungsgrad schwerlich genau festsetzen', und ein über diese relative „Normalbildung" hinausgehendes Streben ist gewiß nicht schlechthin zu verwerfen, da es durchaus nicht notwendig zur Verbildung führen wird. Daß eine Leitung durch überlegene Bildung notwendig ist, zeigt sich be¬ sonders an Erfahrungen im Kunstleben, wo sich das gute gegen den Geschmack der Menge durchsetzen muß. Wie stände es um unser Konzert- und Theaterleben, wenn die Auswahl der aufgeführten Werke von den Wünschen des Publikums abhängig gemacht würde, dos hier doch durchweg den „gebildeten" Kreisen ange- hoi-t? Strauß, Reger, Mahler, Psttzner oder Gerhard Hauptmann wären nie zu Gehör gekommen. Das schlagendste Beispiel einer Kunst von unten aber bietet das Lichtspieltheater, das ganz im Banne der Masseninstinkte steht und bisher allen Bemühungen, es auf eine höhere Stufe emporzuheben, widerstanden hat. Auch die sogenannte Kunstkarte, die Ansichtskarte mit Nachbildungen von Gemälden,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/305
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/305>, abgerufen am 15.05.2024.