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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr.

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Bethmann Hollwegs Betrachtungen

Solcher Gedankengang ist tief im ostchristlichen religiösen Empfinden
begründet. Er ist als Flucht aus der unendlichen seelischen Qual in die körper¬
liche und seelische Ruhe der für andere übernommenen Strafe verständlich, oder
psychologisch einfacher erklärlich aus den schwachen Nerven des zu Unrecht Beschul¬
digten, der auf die Dauer den seelischen Anstrengungen der Untersuchungshaft
und der Quälereien seines Peinigers, des Untersuchungsrichters, nicht gewachsen ist.
Trotzdem billigt ihn der große slawische Dichter auch nicht für den Einzelmenschen.

Deutschlands Seele befindet sich in einem ähnlichen Zustande. Wir sind
durch die geistigen und körperlichen Anstrengungen der Kriegsjahre und der
Hungerblockade "bis zum äußersten erschöpft. Die Niederlage, die plötzlich die
Nation ohne Übergang aus der Höhe in die Tiefe riß -- die Revolution, die
uns die letzte Waffe aus der Hand schlug, der Waffenstillstand, den ein der letzten
Grausamkeit fähiger Feind benutzte, um die in seiner Gewalt befindlichen Gebt te
dem Reiche zu entfremden und Hunderttausende unserer Kinder unter der Devise:
"iev/er ullis iiuns" zugrunde zu richten und unsere Kriegsgefangenen weiter
schmachten zu lassen, die Friedenstragödie in Verssillcs, wo die deutschen Dele¬
gierten als gefangene Bestien behandelt und mit Steinen beworfen wurden, die
Quertreibereien gewisser politischer Parteien, ideologischer Schwärmer und berufs¬
mäßiger Krittler, welche vorgaben oder glaubten, durch ein "offenes Schuldbekenntnis"
eine Milderung der unfaßbar harten Bedingungen des uns zugedachten Friedens zu
erhalten, -- alles das hat uns beinahe dahin gebracht, wo sich der Anstreicher bei
Dostojewski befand, der Raskolnikows Schuld öffentlich als die seine bekannte.

Jedenfalls haben unsere Feinde es erreicht, daß ein großer Teil unseres
eigenen Volkes in der Schuldfrage "skeptisch" geworden ist, wie neulich noch die
"Frankfurter Zeitung" sich ausdrückte -- und Skepsis ist nicht der Boden, auf
dem Erhebung und nette Hoffnung gedeihen kann. /

Die alten Griechen, die ein großes Gefühl für das hatten, was die Seelen
der Menschen erschüttert, haben in ihren großen Tragödien über die Schuld des
Menschen das ungeheure tragische Walten des unerbittlichen Schicksals gestellt.
Auch unsere großen Dichter und Philosophen haben es ausgesprochen, daß jeder
Mensch schließlich mit eiserner Notwendigkeit den Weg zu vollenden hat, den er
angetreten hat. -- So auch die Nationen.

Es heißt einen zu kleinen Maßstab an die gewaltigen Geschicke der Mensch¬
heit legen, wenn man sich 'einbildet, daß dnrch das zu späte Absender einer Note
der Gang dieser Weltrevolution, die kommen mußte, hätte beeinflußt oder anders
gestaltet werden können.

Tragisch wie sein Ausgang, ist auch der Ursprung dieses Krieges. Eben¬
sowenig wie ein etwaiges Unterschreiben dieses Schmachfriedeus, den uns die
Entente anbietet, die gewaltige Umentwicklung der Welt, in der wir uns augen¬
blicklich befinden, zur Ruhe bringen kaun, ebensowenig ist es von ausschlaggebender
Bedeutung, aus dem Notenwechsel der in das tragische Verhängnis bereits hinein¬
gezwungenen Regierungen der Großmächte die "Schuld" dieses oder jenes Staats¬
mannes konstruieren zu wollen.

Es gibt, wie Bethmann Hollweg dies im Schlußkapitel des ersten Bandes
seiner Betrachtungen') uns zeigt, eine Gesamtschuld aller am Kriege beteiligten
Nationen. Diese Gesamtschuld besteht in dem Wahn, mit den Mitteln der alten
Staatdkunst "die Verwirklichung eigenen Machtbegehreus durch Koalitionen und
Rüstungen zu sichern", um der Menschheitsaufgab!: der Politik gerecht zu werden.

Diese Menschheitsaufgaben der Politik hat vor dem Kriege kein einziges
Volk, kein einziger Staatslenker verstanden -- sie wurden nicht einmal als be¬
stehend, als vorhanden anerkannt -- man fühlte es, griff es, konnte es erjagen;
daß die Politik der Macht, der Koalitionen, Gegenkoalilionen zu der großen
Katastrophe führen mußte -- aber es erschien kein geistiger Führer der durch
Kapitalismus, Jndustrialismus, Materialismus verdorbenen und sich unglücklich



Bethmann Hollweq, Betrachtungen zum Weltkriege, I. Teil: Vor dem Kriege. Verlag
von Reimar Hobbing. Berlin t919.
Bethmann Hollwegs Betrachtungen

Solcher Gedankengang ist tief im ostchristlichen religiösen Empfinden
begründet. Er ist als Flucht aus der unendlichen seelischen Qual in die körper¬
liche und seelische Ruhe der für andere übernommenen Strafe verständlich, oder
psychologisch einfacher erklärlich aus den schwachen Nerven des zu Unrecht Beschul¬
digten, der auf die Dauer den seelischen Anstrengungen der Untersuchungshaft
und der Quälereien seines Peinigers, des Untersuchungsrichters, nicht gewachsen ist.
Trotzdem billigt ihn der große slawische Dichter auch nicht für den Einzelmenschen.

Deutschlands Seele befindet sich in einem ähnlichen Zustande. Wir sind
durch die geistigen und körperlichen Anstrengungen der Kriegsjahre und der
Hungerblockade „bis zum äußersten erschöpft. Die Niederlage, die plötzlich die
Nation ohne Übergang aus der Höhe in die Tiefe riß — die Revolution, die
uns die letzte Waffe aus der Hand schlug, der Waffenstillstand, den ein der letzten
Grausamkeit fähiger Feind benutzte, um die in seiner Gewalt befindlichen Gebt te
dem Reiche zu entfremden und Hunderttausende unserer Kinder unter der Devise:
„iev/er ullis iiuns" zugrunde zu richten und unsere Kriegsgefangenen weiter
schmachten zu lassen, die Friedenstragödie in Verssillcs, wo die deutschen Dele¬
gierten als gefangene Bestien behandelt und mit Steinen beworfen wurden, die
Quertreibereien gewisser politischer Parteien, ideologischer Schwärmer und berufs¬
mäßiger Krittler, welche vorgaben oder glaubten, durch ein „offenes Schuldbekenntnis"
eine Milderung der unfaßbar harten Bedingungen des uns zugedachten Friedens zu
erhalten, — alles das hat uns beinahe dahin gebracht, wo sich der Anstreicher bei
Dostojewski befand, der Raskolnikows Schuld öffentlich als die seine bekannte.

Jedenfalls haben unsere Feinde es erreicht, daß ein großer Teil unseres
eigenen Volkes in der Schuldfrage „skeptisch" geworden ist, wie neulich noch die
„Frankfurter Zeitung" sich ausdrückte — und Skepsis ist nicht der Boden, auf
dem Erhebung und nette Hoffnung gedeihen kann. /

Die alten Griechen, die ein großes Gefühl für das hatten, was die Seelen
der Menschen erschüttert, haben in ihren großen Tragödien über die Schuld des
Menschen das ungeheure tragische Walten des unerbittlichen Schicksals gestellt.
Auch unsere großen Dichter und Philosophen haben es ausgesprochen, daß jeder
Mensch schließlich mit eiserner Notwendigkeit den Weg zu vollenden hat, den er
angetreten hat. — So auch die Nationen.

Es heißt einen zu kleinen Maßstab an die gewaltigen Geschicke der Mensch¬
heit legen, wenn man sich 'einbildet, daß dnrch das zu späte Absender einer Note
der Gang dieser Weltrevolution, die kommen mußte, hätte beeinflußt oder anders
gestaltet werden können.

Tragisch wie sein Ausgang, ist auch der Ursprung dieses Krieges. Eben¬
sowenig wie ein etwaiges Unterschreiben dieses Schmachfriedeus, den uns die
Entente anbietet, die gewaltige Umentwicklung der Welt, in der wir uns augen¬
blicklich befinden, zur Ruhe bringen kaun, ebensowenig ist es von ausschlaggebender
Bedeutung, aus dem Notenwechsel der in das tragische Verhängnis bereits hinein¬
gezwungenen Regierungen der Großmächte die „Schuld" dieses oder jenes Staats¬
mannes konstruieren zu wollen.

Es gibt, wie Bethmann Hollweg dies im Schlußkapitel des ersten Bandes
seiner Betrachtungen') uns zeigt, eine Gesamtschuld aller am Kriege beteiligten
Nationen. Diese Gesamtschuld besteht in dem Wahn, mit den Mitteln der alten
Staatdkunst „die Verwirklichung eigenen Machtbegehreus durch Koalitionen und
Rüstungen zu sichern", um der Menschheitsaufgab!: der Politik gerecht zu werden.

Diese Menschheitsaufgaben der Politik hat vor dem Kriege kein einziges
Volk, kein einziger Staatslenker verstanden — sie wurden nicht einmal als be¬
stehend, als vorhanden anerkannt — man fühlte es, griff es, konnte es erjagen;
daß die Politik der Macht, der Koalitionen, Gegenkoalilionen zu der großen
Katastrophe führen mußte — aber es erschien kein geistiger Führer der durch
Kapitalismus, Jndustrialismus, Materialismus verdorbenen und sich unglücklich



Bethmann Hollweq, Betrachtungen zum Weltkriege, I. Teil: Vor dem Kriege. Verlag
von Reimar Hobbing. Berlin t919.
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[0314] Bethmann Hollwegs Betrachtungen Solcher Gedankengang ist tief im ostchristlichen religiösen Empfinden begründet. Er ist als Flucht aus der unendlichen seelischen Qual in die körper¬ liche und seelische Ruhe der für andere übernommenen Strafe verständlich, oder psychologisch einfacher erklärlich aus den schwachen Nerven des zu Unrecht Beschul¬ digten, der auf die Dauer den seelischen Anstrengungen der Untersuchungshaft und der Quälereien seines Peinigers, des Untersuchungsrichters, nicht gewachsen ist. Trotzdem billigt ihn der große slawische Dichter auch nicht für den Einzelmenschen. Deutschlands Seele befindet sich in einem ähnlichen Zustande. Wir sind durch die geistigen und körperlichen Anstrengungen der Kriegsjahre und der Hungerblockade „bis zum äußersten erschöpft. Die Niederlage, die plötzlich die Nation ohne Übergang aus der Höhe in die Tiefe riß — die Revolution, die uns die letzte Waffe aus der Hand schlug, der Waffenstillstand, den ein der letzten Grausamkeit fähiger Feind benutzte, um die in seiner Gewalt befindlichen Gebt te dem Reiche zu entfremden und Hunderttausende unserer Kinder unter der Devise: „iev/er ullis iiuns" zugrunde zu richten und unsere Kriegsgefangenen weiter schmachten zu lassen, die Friedenstragödie in Verssillcs, wo die deutschen Dele¬ gierten als gefangene Bestien behandelt und mit Steinen beworfen wurden, die Quertreibereien gewisser politischer Parteien, ideologischer Schwärmer und berufs¬ mäßiger Krittler, welche vorgaben oder glaubten, durch ein „offenes Schuldbekenntnis" eine Milderung der unfaßbar harten Bedingungen des uns zugedachten Friedens zu erhalten, — alles das hat uns beinahe dahin gebracht, wo sich der Anstreicher bei Dostojewski befand, der Raskolnikows Schuld öffentlich als die seine bekannte. Jedenfalls haben unsere Feinde es erreicht, daß ein großer Teil unseres eigenen Volkes in der Schuldfrage „skeptisch" geworden ist, wie neulich noch die „Frankfurter Zeitung" sich ausdrückte — und Skepsis ist nicht der Boden, auf dem Erhebung und nette Hoffnung gedeihen kann. / Die alten Griechen, die ein großes Gefühl für das hatten, was die Seelen der Menschen erschüttert, haben in ihren großen Tragödien über die Schuld des Menschen das ungeheure tragische Walten des unerbittlichen Schicksals gestellt. Auch unsere großen Dichter und Philosophen haben es ausgesprochen, daß jeder Mensch schließlich mit eiserner Notwendigkeit den Weg zu vollenden hat, den er angetreten hat. — So auch die Nationen. Es heißt einen zu kleinen Maßstab an die gewaltigen Geschicke der Mensch¬ heit legen, wenn man sich 'einbildet, daß dnrch das zu späte Absender einer Note der Gang dieser Weltrevolution, die kommen mußte, hätte beeinflußt oder anders gestaltet werden können. Tragisch wie sein Ausgang, ist auch der Ursprung dieses Krieges. Eben¬ sowenig wie ein etwaiges Unterschreiben dieses Schmachfriedeus, den uns die Entente anbietet, die gewaltige Umentwicklung der Welt, in der wir uns augen¬ blicklich befinden, zur Ruhe bringen kaun, ebensowenig ist es von ausschlaggebender Bedeutung, aus dem Notenwechsel der in das tragische Verhängnis bereits hinein¬ gezwungenen Regierungen der Großmächte die „Schuld" dieses oder jenes Staats¬ mannes konstruieren zu wollen. Es gibt, wie Bethmann Hollweg dies im Schlußkapitel des ersten Bandes seiner Betrachtungen') uns zeigt, eine Gesamtschuld aller am Kriege beteiligten Nationen. Diese Gesamtschuld besteht in dem Wahn, mit den Mitteln der alten Staatdkunst „die Verwirklichung eigenen Machtbegehreus durch Koalitionen und Rüstungen zu sichern", um der Menschheitsaufgab!: der Politik gerecht zu werden. Diese Menschheitsaufgaben der Politik hat vor dem Kriege kein einziges Volk, kein einziger Staatslenker verstanden — sie wurden nicht einmal als be¬ stehend, als vorhanden anerkannt — man fühlte es, griff es, konnte es erjagen; daß die Politik der Macht, der Koalitionen, Gegenkoalilionen zu der großen Katastrophe führen mußte — aber es erschien kein geistiger Führer der durch Kapitalismus, Jndustrialismus, Materialismus verdorbenen und sich unglücklich Bethmann Hollweq, Betrachtungen zum Weltkriege, I. Teil: Vor dem Kriege. Verlag von Reimar Hobbing. Berlin t919.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/314>, abgerufen am 15.05.2024.