Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

sollten. Die Besuche in den Wohnungen der
Kranken sollen möglichst wegfallen. Bett¬
lägerige Kranke würden in die Krankenhäuser
aufgenommen und dort gleichwie die ambu¬
lanten auf Kosten des Staates behandelt.

Das ist ungefähr das Proqramm der
Verstaatlichung der Krankenhilfe, die bestimmt
sein soll, eine ungeahnte Blüte der Volks-
gesundheit zu erzeugen.

Eine grundsätzliche Frage müssen wir bei
der Diskussion borwegnehmen: Der Aus¬
gongspunkt der ganzen sozialistischen Idee ist
die angeblich fortschreitende Proletarisierung
der Arbeitermassen durch eine Verstaatlichung
der Produkiioiismittel zu beseitigen. Ver¬
staatlichung ist also nur Mittel zum Zwecke
(der Abschaffung der Kapitalismus).

Bei der Verstaatlichung der Krankenhilfe
bezweckt man erstens soziale Fürsorge für das
Proletariat (durch unentgeltliche Krankenhilfe),
zweitens Hebung der Volksgesundheit.

Winde diese Absicht erreicht werden?

Es ist zweifelhaft, ob materiell die Ar¬
beiter bei einer Sozialisierung besser dastehen
werden als jetzt. Allerdings würden die
Kosten für Arzt, Arznei, Krankenhaus usw.
ganz aus dem Steuersäckel der Allgemeinheit
bestritten werden. Bei der heutigen Kranken¬
kassengesetzgebung bezahlt zwar formell der
Arbeiter zwei Drittel der Krnnkenkassenbei-
träge, der Arbeitgeber ein Drittel. In der
Praxis aber kann man sagen, daß (durch
Anpassung der Lohnverhältnisse) die Arbeit¬
geber zum mindesten den größten Teil der
Kosten tragen. Für das Proletariat würde
es sich also nur um eine Verschiebung der
Kostenfrage, wahrscheinlich sogar, infolge des
ungleich kostspieligeren Beamtenapparates, um
eine ganz wesentliche Verteuerung handeln.

Der zweite Grund zur Sozialisierung,
die Vervollkommnung der Gesundheitspflege,
dürfte noch weniger stichhaltig sein. Ein
großer Teil der Krankenpflege ist bereits in
den Kranken'assen halb und halb verstaatlicht.
Daß nun eine weitere Verstaatlichung, d. h.
Verbeamtung des Nrztestandes wirklich im
Interesse der Volksgesundheit liegen sollte,
darf sehr bezweifelt werden. Wird z. B. bei
großen Epidemien, wie die letzte Grippe¬
epidemie, wo Anforderungen zwölf-, vierzehn-
und mehrstündiger Arbeitszeit an die Arzte

[Spaltenumbruch]

gestellt wurden, der beamtete Arzt wirklich
mehr leisten als der freie? Wird das Persön¬
liche Interesse am einzelnen, an der Familie
des Kranken, beim Beamten größer sein als
jetzt? Gewiß, durch die Kassengesetzgebung ist
dieses außerordentlich bedeutsame Moment
herabgemindert worden,. am meisten beim
sogenannten fixierten Ärztesystem (beznksweise
mit Fixum angestellte Arzte), das allgemein als
das schlechteste gilt. Sollen wir diesen Übel¬
stand nun weiter verschlimmern oder sollten
wir nicht vielmehr Wege einzuschlagen suchen,
die das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt
und Kranken zu verbessern suchen, das sub¬
jektive Moment wieder mehr zur Geltung
bringen?

Zusammenfassend ist also zu sagen, daß
die grosse sozialethische Idee des Sozialismus,
die Beseitigung der Ausbeutung für unseren
Fall vollkommen außer Betracht bleibt. Nur
das Bestreben schematisch alles zu sozialisieren,
erklärt die Ausnahme in das Programm.

Vom rein materiellen Standpunkte aus
könnte ein relativ großer Teil der Arzte mit
der Verstaatlichung ganz zufrieden sein. Ist
es doch ein ganz erheblicher Prozentsatz, der
mit schtveren Sorgen kämpft und sich heute
im aufreibenden Kampf ums tägliche Brot
abmühen muß, dem ein sorgenloses Leben in
Aussicht gestellt wird. Trotzdem eine, abge¬
sehen von wenigen sozialdemokratischen Ärzten,
so gut wie einstimmige Ablehnung des Pro¬
jekts in der Ärzteschaft, auch unter denjenigen,
die materiell wesentlich besser gestellt sein
würden. Warum? -- Es handelt sich hier
um die grundsätzliche Frage der besten Art
der Sorge für die Volksgesundheit, um die
Auffassung des ganzen ärztlichen Berufs, der
nach der Meisten Ansicht nur in der Freiheit
gedeihen kann. Es gibt Wohl kaum einen
Beruf, der sich weniger in ein Schema zwän¬
gen läßt, als der ärztliche. Soll es etwa
ein Vorteil für den Kranken sein, wenn er
nicht den Arzt seines Vertrauens wählerv
kann, sondern sich zu dem ihm zugewiesenen
Bezirksarzt begeben muß? Denn von dem
beamteten Arzt mit festgesetzten Bureaustunden,
dem die Kranken seiner Tüchtigkeit wegen
zuströmen sollten, wird man nicht erwarten
können, daß er sich bis spät in die Nacht
abmüht. Nach Ablauf seiner Arbeitszeit wird

[Ende Spaltensatz]
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

sollten. Die Besuche in den Wohnungen der
Kranken sollen möglichst wegfallen. Bett¬
lägerige Kranke würden in die Krankenhäuser
aufgenommen und dort gleichwie die ambu¬
lanten auf Kosten des Staates behandelt.

Das ist ungefähr das Proqramm der
Verstaatlichung der Krankenhilfe, die bestimmt
sein soll, eine ungeahnte Blüte der Volks-
gesundheit zu erzeugen.

Eine grundsätzliche Frage müssen wir bei
der Diskussion borwegnehmen: Der Aus¬
gongspunkt der ganzen sozialistischen Idee ist
die angeblich fortschreitende Proletarisierung
der Arbeitermassen durch eine Verstaatlichung
der Produkiioiismittel zu beseitigen. Ver¬
staatlichung ist also nur Mittel zum Zwecke
(der Abschaffung der Kapitalismus).

Bei der Verstaatlichung der Krankenhilfe
bezweckt man erstens soziale Fürsorge für das
Proletariat (durch unentgeltliche Krankenhilfe),
zweitens Hebung der Volksgesundheit.

Winde diese Absicht erreicht werden?

Es ist zweifelhaft, ob materiell die Ar¬
beiter bei einer Sozialisierung besser dastehen
werden als jetzt. Allerdings würden die
Kosten für Arzt, Arznei, Krankenhaus usw.
ganz aus dem Steuersäckel der Allgemeinheit
bestritten werden. Bei der heutigen Kranken¬
kassengesetzgebung bezahlt zwar formell der
Arbeiter zwei Drittel der Krnnkenkassenbei-
träge, der Arbeitgeber ein Drittel. In der
Praxis aber kann man sagen, daß (durch
Anpassung der Lohnverhältnisse) die Arbeit¬
geber zum mindesten den größten Teil der
Kosten tragen. Für das Proletariat würde
es sich also nur um eine Verschiebung der
Kostenfrage, wahrscheinlich sogar, infolge des
ungleich kostspieligeren Beamtenapparates, um
eine ganz wesentliche Verteuerung handeln.

Der zweite Grund zur Sozialisierung,
die Vervollkommnung der Gesundheitspflege,
dürfte noch weniger stichhaltig sein. Ein
großer Teil der Krankenpflege ist bereits in
den Kranken'assen halb und halb verstaatlicht.
Daß nun eine weitere Verstaatlichung, d. h.
Verbeamtung des Nrztestandes wirklich im
Interesse der Volksgesundheit liegen sollte,
darf sehr bezweifelt werden. Wird z. B. bei
großen Epidemien, wie die letzte Grippe¬
epidemie, wo Anforderungen zwölf-, vierzehn-
und mehrstündiger Arbeitszeit an die Arzte

[Spaltenumbruch]

gestellt wurden, der beamtete Arzt wirklich
mehr leisten als der freie? Wird das Persön¬
liche Interesse am einzelnen, an der Familie
des Kranken, beim Beamten größer sein als
jetzt? Gewiß, durch die Kassengesetzgebung ist
dieses außerordentlich bedeutsame Moment
herabgemindert worden,. am meisten beim
sogenannten fixierten Ärztesystem (beznksweise
mit Fixum angestellte Arzte), das allgemein als
das schlechteste gilt. Sollen wir diesen Übel¬
stand nun weiter verschlimmern oder sollten
wir nicht vielmehr Wege einzuschlagen suchen,
die das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt
und Kranken zu verbessern suchen, das sub¬
jektive Moment wieder mehr zur Geltung
bringen?

Zusammenfassend ist also zu sagen, daß
die grosse sozialethische Idee des Sozialismus,
die Beseitigung der Ausbeutung für unseren
Fall vollkommen außer Betracht bleibt. Nur
das Bestreben schematisch alles zu sozialisieren,
erklärt die Ausnahme in das Programm.

Vom rein materiellen Standpunkte aus
könnte ein relativ großer Teil der Arzte mit
der Verstaatlichung ganz zufrieden sein. Ist
es doch ein ganz erheblicher Prozentsatz, der
mit schtveren Sorgen kämpft und sich heute
im aufreibenden Kampf ums tägliche Brot
abmühen muß, dem ein sorgenloses Leben in
Aussicht gestellt wird. Trotzdem eine, abge¬
sehen von wenigen sozialdemokratischen Ärzten,
so gut wie einstimmige Ablehnung des Pro¬
jekts in der Ärzteschaft, auch unter denjenigen,
die materiell wesentlich besser gestellt sein
würden. Warum? — Es handelt sich hier
um die grundsätzliche Frage der besten Art
der Sorge für die Volksgesundheit, um die
Auffassung des ganzen ärztlichen Berufs, der
nach der Meisten Ansicht nur in der Freiheit
gedeihen kann. Es gibt Wohl kaum einen
Beruf, der sich weniger in ein Schema zwän¬
gen läßt, als der ärztliche. Soll es etwa
ein Vorteil für den Kranken sein, wenn er
nicht den Arzt seines Vertrauens wählerv
kann, sondern sich zu dem ihm zugewiesenen
Bezirksarzt begeben muß? Denn von dem
beamteten Arzt mit festgesetzten Bureaustunden,
dem die Kranken seiner Tüchtigkeit wegen
zuströmen sollten, wird man nicht erwarten
können, daß er sich bis spät in die Nacht
abmüht. Nach Ablauf seiner Arbeitszeit wird

[Ende Spaltensatz]
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0035" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/335443"/>
          <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
          <cb type="start"/>
          <p xml:id="ID_76" prev="#ID_75"> sollten. Die Besuche in den Wohnungen der<lb/>
Kranken sollen möglichst wegfallen. Bett¬<lb/>
lägerige Kranke würden in die Krankenhäuser<lb/>
aufgenommen und dort gleichwie die ambu¬<lb/>
lanten auf Kosten des Staates behandelt.</p>
          <p xml:id="ID_77"> Das ist ungefähr das Proqramm der<lb/>
Verstaatlichung der Krankenhilfe, die bestimmt<lb/>
sein soll, eine ungeahnte Blüte der Volks-<lb/>
gesundheit zu erzeugen.</p>
          <p xml:id="ID_78"> Eine grundsätzliche Frage müssen wir bei<lb/>
der Diskussion borwegnehmen: Der Aus¬<lb/>
gongspunkt der ganzen sozialistischen Idee ist<lb/>
die angeblich fortschreitende Proletarisierung<lb/>
der Arbeitermassen durch eine Verstaatlichung<lb/>
der Produkiioiismittel zu beseitigen. Ver¬<lb/>
staatlichung ist also nur Mittel zum Zwecke<lb/>
(der Abschaffung der Kapitalismus).</p>
          <p xml:id="ID_79"> Bei der Verstaatlichung der Krankenhilfe<lb/>
bezweckt man erstens soziale Fürsorge für das<lb/>
Proletariat (durch unentgeltliche Krankenhilfe),<lb/>
zweitens Hebung der Volksgesundheit.</p>
          <p xml:id="ID_80"> Winde diese Absicht erreicht werden?</p>
          <p xml:id="ID_81"> Es ist zweifelhaft, ob materiell die Ar¬<lb/>
beiter bei einer Sozialisierung besser dastehen<lb/>
werden als jetzt. Allerdings würden die<lb/>
Kosten für Arzt, Arznei, Krankenhaus usw.<lb/>
ganz aus dem Steuersäckel der Allgemeinheit<lb/>
bestritten werden. Bei der heutigen Kranken¬<lb/>
kassengesetzgebung bezahlt zwar formell der<lb/>
Arbeiter zwei Drittel der Krnnkenkassenbei-<lb/>
träge, der Arbeitgeber ein Drittel. In der<lb/>
Praxis aber kann man sagen, daß (durch<lb/>
Anpassung der Lohnverhältnisse) die Arbeit¬<lb/>
geber zum mindesten den größten Teil der<lb/>
Kosten tragen. Für das Proletariat würde<lb/>
es sich also nur um eine Verschiebung der<lb/>
Kostenfrage, wahrscheinlich sogar, infolge des<lb/>
ungleich kostspieligeren Beamtenapparates, um<lb/>
eine ganz wesentliche Verteuerung handeln.</p>
          <p xml:id="ID_82" next="#ID_83"> Der zweite Grund zur Sozialisierung,<lb/>
die Vervollkommnung der Gesundheitspflege,<lb/>
dürfte noch weniger stichhaltig sein. Ein<lb/>
großer Teil der Krankenpflege ist bereits in<lb/>
den Kranken'assen halb und halb verstaatlicht.<lb/>
Daß nun eine weitere Verstaatlichung, d. h.<lb/>
Verbeamtung des Nrztestandes wirklich im<lb/>
Interesse der Volksgesundheit liegen sollte,<lb/>
darf sehr bezweifelt werden. Wird z. B. bei<lb/>
großen Epidemien, wie die letzte Grippe¬<lb/>
epidemie, wo Anforderungen zwölf-, vierzehn-<lb/>
und mehrstündiger Arbeitszeit an die Arzte</p>
          <cb/><lb/>
          <p xml:id="ID_83" prev="#ID_82"> gestellt wurden, der beamtete Arzt wirklich<lb/>
mehr leisten als der freie? Wird das Persön¬<lb/>
liche Interesse am einzelnen, an der Familie<lb/>
des Kranken, beim Beamten größer sein als<lb/>
jetzt? Gewiß, durch die Kassengesetzgebung ist<lb/>
dieses außerordentlich bedeutsame Moment<lb/>
herabgemindert worden,. am meisten beim<lb/>
sogenannten fixierten Ärztesystem (beznksweise<lb/>
mit Fixum angestellte Arzte), das allgemein als<lb/>
das schlechteste gilt. Sollen wir diesen Übel¬<lb/>
stand nun weiter verschlimmern oder sollten<lb/>
wir nicht vielmehr Wege einzuschlagen suchen,<lb/>
die das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt<lb/>
und Kranken zu verbessern suchen, das sub¬<lb/>
jektive Moment wieder mehr zur Geltung<lb/>
bringen?</p>
          <p xml:id="ID_84"> Zusammenfassend ist also zu sagen, daß<lb/>
die grosse sozialethische Idee des Sozialismus,<lb/>
die Beseitigung der Ausbeutung für unseren<lb/>
Fall vollkommen außer Betracht bleibt. Nur<lb/>
das Bestreben schematisch alles zu sozialisieren,<lb/>
erklärt die Ausnahme in das Programm.</p>
          <p xml:id="ID_85" next="#ID_86"> Vom rein materiellen Standpunkte aus<lb/>
könnte ein relativ großer Teil der Arzte mit<lb/>
der Verstaatlichung ganz zufrieden sein. Ist<lb/>
es doch ein ganz erheblicher Prozentsatz, der<lb/>
mit schtveren Sorgen kämpft und sich heute<lb/>
im aufreibenden Kampf ums tägliche Brot<lb/>
abmühen muß, dem ein sorgenloses Leben in<lb/>
Aussicht gestellt wird. Trotzdem eine, abge¬<lb/>
sehen von wenigen sozialdemokratischen Ärzten,<lb/>
so gut wie einstimmige Ablehnung des Pro¬<lb/>
jekts in der Ärzteschaft, auch unter denjenigen,<lb/>
die materiell wesentlich besser gestellt sein<lb/>
würden. Warum? &#x2014; Es handelt sich hier<lb/>
um die grundsätzliche Frage der besten Art<lb/>
der Sorge für die Volksgesundheit, um die<lb/>
Auffassung des ganzen ärztlichen Berufs, der<lb/>
nach der Meisten Ansicht nur in der Freiheit<lb/>
gedeihen kann. Es gibt Wohl kaum einen<lb/>
Beruf, der sich weniger in ein Schema zwän¬<lb/>
gen läßt, als der ärztliche. Soll es etwa<lb/>
ein Vorteil für den Kranken sein, wenn er<lb/>
nicht den Arzt seines Vertrauens wählerv<lb/>
kann, sondern sich zu dem ihm zugewiesenen<lb/>
Bezirksarzt begeben muß? Denn von dem<lb/>
beamteten Arzt mit festgesetzten Bureaustunden,<lb/>
dem die Kranken seiner Tüchtigkeit wegen<lb/>
zuströmen sollten, wird man nicht erwarten<lb/>
können, daß er sich bis spät in die Nacht<lb/>
abmüht. Nach Ablauf seiner Arbeitszeit wird</p>
          <cb type="end"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0035] Maßgebliches und Unmaßgebliches sollten. Die Besuche in den Wohnungen der Kranken sollen möglichst wegfallen. Bett¬ lägerige Kranke würden in die Krankenhäuser aufgenommen und dort gleichwie die ambu¬ lanten auf Kosten des Staates behandelt. Das ist ungefähr das Proqramm der Verstaatlichung der Krankenhilfe, die bestimmt sein soll, eine ungeahnte Blüte der Volks- gesundheit zu erzeugen. Eine grundsätzliche Frage müssen wir bei der Diskussion borwegnehmen: Der Aus¬ gongspunkt der ganzen sozialistischen Idee ist die angeblich fortschreitende Proletarisierung der Arbeitermassen durch eine Verstaatlichung der Produkiioiismittel zu beseitigen. Ver¬ staatlichung ist also nur Mittel zum Zwecke (der Abschaffung der Kapitalismus). Bei der Verstaatlichung der Krankenhilfe bezweckt man erstens soziale Fürsorge für das Proletariat (durch unentgeltliche Krankenhilfe), zweitens Hebung der Volksgesundheit. Winde diese Absicht erreicht werden? Es ist zweifelhaft, ob materiell die Ar¬ beiter bei einer Sozialisierung besser dastehen werden als jetzt. Allerdings würden die Kosten für Arzt, Arznei, Krankenhaus usw. ganz aus dem Steuersäckel der Allgemeinheit bestritten werden. Bei der heutigen Kranken¬ kassengesetzgebung bezahlt zwar formell der Arbeiter zwei Drittel der Krnnkenkassenbei- träge, der Arbeitgeber ein Drittel. In der Praxis aber kann man sagen, daß (durch Anpassung der Lohnverhältnisse) die Arbeit¬ geber zum mindesten den größten Teil der Kosten tragen. Für das Proletariat würde es sich also nur um eine Verschiebung der Kostenfrage, wahrscheinlich sogar, infolge des ungleich kostspieligeren Beamtenapparates, um eine ganz wesentliche Verteuerung handeln. Der zweite Grund zur Sozialisierung, die Vervollkommnung der Gesundheitspflege, dürfte noch weniger stichhaltig sein. Ein großer Teil der Krankenpflege ist bereits in den Kranken'assen halb und halb verstaatlicht. Daß nun eine weitere Verstaatlichung, d. h. Verbeamtung des Nrztestandes wirklich im Interesse der Volksgesundheit liegen sollte, darf sehr bezweifelt werden. Wird z. B. bei großen Epidemien, wie die letzte Grippe¬ epidemie, wo Anforderungen zwölf-, vierzehn- und mehrstündiger Arbeitszeit an die Arzte gestellt wurden, der beamtete Arzt wirklich mehr leisten als der freie? Wird das Persön¬ liche Interesse am einzelnen, an der Familie des Kranken, beim Beamten größer sein als jetzt? Gewiß, durch die Kassengesetzgebung ist dieses außerordentlich bedeutsame Moment herabgemindert worden,. am meisten beim sogenannten fixierten Ärztesystem (beznksweise mit Fixum angestellte Arzte), das allgemein als das schlechteste gilt. Sollen wir diesen Übel¬ stand nun weiter verschlimmern oder sollten wir nicht vielmehr Wege einzuschlagen suchen, die das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Kranken zu verbessern suchen, das sub¬ jektive Moment wieder mehr zur Geltung bringen? Zusammenfassend ist also zu sagen, daß die grosse sozialethische Idee des Sozialismus, die Beseitigung der Ausbeutung für unseren Fall vollkommen außer Betracht bleibt. Nur das Bestreben schematisch alles zu sozialisieren, erklärt die Ausnahme in das Programm. Vom rein materiellen Standpunkte aus könnte ein relativ großer Teil der Arzte mit der Verstaatlichung ganz zufrieden sein. Ist es doch ein ganz erheblicher Prozentsatz, der mit schtveren Sorgen kämpft und sich heute im aufreibenden Kampf ums tägliche Brot abmühen muß, dem ein sorgenloses Leben in Aussicht gestellt wird. Trotzdem eine, abge¬ sehen von wenigen sozialdemokratischen Ärzten, so gut wie einstimmige Ablehnung des Pro¬ jekts in der Ärzteschaft, auch unter denjenigen, die materiell wesentlich besser gestellt sein würden. Warum? — Es handelt sich hier um die grundsätzliche Frage der besten Art der Sorge für die Volksgesundheit, um die Auffassung des ganzen ärztlichen Berufs, der nach der Meisten Ansicht nur in der Freiheit gedeihen kann. Es gibt Wohl kaum einen Beruf, der sich weniger in ein Schema zwän¬ gen läßt, als der ärztliche. Soll es etwa ein Vorteil für den Kranken sein, wenn er nicht den Arzt seines Vertrauens wählerv kann, sondern sich zu dem ihm zugewiesenen Bezirksarzt begeben muß? Denn von dem beamteten Arzt mit festgesetzten Bureaustunden, dem die Kranken seiner Tüchtigkeit wegen zuströmen sollten, wird man nicht erwarten können, daß er sich bis spät in die Nacht abmüht. Nach Ablauf seiner Arbeitszeit wird

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/35
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/35>, abgerufen am 15.05.2024.