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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Viertes Vierteljahr.

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Flaubert und die andern

Italien, später, 1849/51, auf einer großen und ereignisreichen Wanderung durch
den Orient, Ägypten, Nubien, Syrien und die Türkei -- nach dem Beispiel
Chateaubriands, aber ohne den grandseigneurolen Komfort, mit dem jener
seine Fahrten umgeben hatte. Das Tagebuch jener Reise, 1911 veröffentlicht, ist
stellenweise mehr als offenherzig. 1856/57. das heißt die Wende seines 35. Lebens-
johres ist entscheidend sür Flauberts dichterische Bedeutung. Zuerst in der, ,Kevue
ete Paris", dann in Buchform erscheint Madame Bovary und trägt neben Weltruf
dem Dichter die eingangs erwähnte Anklage mit nachfolgendem Freispruch ein.

Inhalt und Bedeutung des ersten realistischen Romans find so bekannt, um
hier erörtert zu werden. Aber ein Blick auf die Umwelt mag zur Zeitbestimmung
als Reminiszenz willkommen sein. Thiers' und Michelet's Revolutions- und
Napoleons-Historie sind kurz zuvor erschienen, Taine's Buch über die französischen
Philosophen des 19, Jahrhunderts hat der Gesellschaft ihre Bedeutung nahe
gerückt, Victor Hugo thront als Parnassier, Musset stirbt eben um die gleiche Zeit,
die Dramen des Sohnes Dumas locken Tausende ins Theater und Le. Leuves
"Lauseries ein I^uncii" erschienen in regelmäßiger Folge, das Nichtertum des
geistreichsten Franzosen über den Geschmack stabilierend; die "Diners cle NaZn)?"
sind vielleicht schon vorüber, aber im Salon Mathilde Bonaparte wird der Wert
zeitgenössischer Dichter und Menschen dekretiert. George Sand's zwanzigbändige
Lebensgeschichte, 1854 veröffentlicht, wird noch gelesen und ihr freundschaftlicher
Verkehr mit dem jüngeren Flaubert wirft Glanz auf seine Person. Lamartine
steht auf der Höhe seines Könnens und seiner Anerkennung, Berenger liegt eben
auf dem Totenbett, und Balzac (im wahrsten Sinne sein Vorgänger, denn auch
er hat den Bourgeois künstlerisch geadelt) ist noch unvergessen.

Eine Welle von geistigen, literarischen Interessen durchflutet das Paris des
zweiten Kaiserreichs, das auch politisch seinen Höhepunkt beinahe erreicht hat. In
diesen Boden, gedüngt von dem Schweiß einer heftig und lebenden skeptisch empfinden¬
den Generation, übergoldet von großen historischen Traditionen, noch zu frisch, um
vergessen zu sein, schon zu alt, um nicht den romantischen Zauber der Distanz
zu tragen, ließ sich gut säen und fast mit magischer Gewalt wuchs die Saat zu
Riesenmassen. Hier hatte ein kaum bekannter Mann, ein Auswärtiger, einer,
der höchstens beiläufig und gelegentlich den Maßgebenden zu Gesicht gekommen
war, alle Traditionen der Dichtkunst über Bord geworfen und mit einem Schlage
ein Werk geschaffen, das nicht in pomphafter Hofoper oder in exotischer oder
exzentrischer Fremdartigkeit, sondern in der spießigen Einfalt des französischen
Kleinstadtlebens alle Elemente des großen Romans: Leidenschaft und Tragödie,
Entwicklung und Klimax und Zusammenbruch aufzuzeigen wußte, -- das mit
fanatischer Deutlichkeit den Dingen ihren Namen gab und sie in Sätze einbaute,
wie man sie ähnlich künstlerisch geschliffen selbst unter den pflichtgemäß bewunderten
klassischen Stanzen der Corneille und Racine kaum entdeckt hatte. Das Motiv
zu seinen Werken fand Flaubert fast nie in seiner Phantasie,- die Anregung ist
ihm meist von außen gekommen; für die tentation ac A, /mtcmie aus einen.
Bilde Breughels, das er 1845 in der Sammlung Balbi zu Genua gesehen hatte,
seine SalammbS auf einer Reise nach Tunis, die er 1858 nacb seinem ersten
großen Bucherfolg antrat, und Madame Bovary aus einem Vorfall, wie er
nicht selten unter "Vermischtes" in den Spalten der Tageszeitungen erscheint.
In dem französischen Städtchen Ry hatte sich 1848 die Frau des Arztes Dela-
mare, geborene Delphine Couturier vergiftet, nachdem sie mit einem Gutsbesitzer
Campion und anderen Ehebruch getrieben hatte. Im Roman heißt die Arztfrau
Emma Bovary, ihr erster Liebhaber Boulanger, ihr zweiter DupuiZ! ihr Mann
wird zugrunde gerichtet und sie nimmt Arsenik. Auch die Nebenpersonen, so ein
atheistischer Apotheker Homais, kommen in der wahren Episode vor. Ob diese
freilich von dem Zauber der Romantik umkleidet gewesen ist, den der Künstler
Flaubert in diese Alltagsgeschichte hineingetragen hat, in die er seine Sehnsucht
nach dem Leben in gesteigerter Form und seine Ehrfurcht vor der unerbittlichen
Gewalt dieses Lebens gegossen hat ...... das müssen wir dahingestellt sein lassen.


Flaubert und die andern

Italien, später, 1849/51, auf einer großen und ereignisreichen Wanderung durch
den Orient, Ägypten, Nubien, Syrien und die Türkei — nach dem Beispiel
Chateaubriands, aber ohne den grandseigneurolen Komfort, mit dem jener
seine Fahrten umgeben hatte. Das Tagebuch jener Reise, 1911 veröffentlicht, ist
stellenweise mehr als offenherzig. 1856/57. das heißt die Wende seines 35. Lebens-
johres ist entscheidend sür Flauberts dichterische Bedeutung. Zuerst in der, ,Kevue
ete Paris", dann in Buchform erscheint Madame Bovary und trägt neben Weltruf
dem Dichter die eingangs erwähnte Anklage mit nachfolgendem Freispruch ein.

Inhalt und Bedeutung des ersten realistischen Romans find so bekannt, um
hier erörtert zu werden. Aber ein Blick auf die Umwelt mag zur Zeitbestimmung
als Reminiszenz willkommen sein. Thiers' und Michelet's Revolutions- und
Napoleons-Historie sind kurz zuvor erschienen, Taine's Buch über die französischen
Philosophen des 19, Jahrhunderts hat der Gesellschaft ihre Bedeutung nahe
gerückt, Victor Hugo thront als Parnassier, Musset stirbt eben um die gleiche Zeit,
die Dramen des Sohnes Dumas locken Tausende ins Theater und Le. Leuves
„Lauseries ein I^uncii" erschienen in regelmäßiger Folge, das Nichtertum des
geistreichsten Franzosen über den Geschmack stabilierend; die „Diners cle NaZn)?"
sind vielleicht schon vorüber, aber im Salon Mathilde Bonaparte wird der Wert
zeitgenössischer Dichter und Menschen dekretiert. George Sand's zwanzigbändige
Lebensgeschichte, 1854 veröffentlicht, wird noch gelesen und ihr freundschaftlicher
Verkehr mit dem jüngeren Flaubert wirft Glanz auf seine Person. Lamartine
steht auf der Höhe seines Könnens und seiner Anerkennung, Berenger liegt eben
auf dem Totenbett, und Balzac (im wahrsten Sinne sein Vorgänger, denn auch
er hat den Bourgeois künstlerisch geadelt) ist noch unvergessen.

Eine Welle von geistigen, literarischen Interessen durchflutet das Paris des
zweiten Kaiserreichs, das auch politisch seinen Höhepunkt beinahe erreicht hat. In
diesen Boden, gedüngt von dem Schweiß einer heftig und lebenden skeptisch empfinden¬
den Generation, übergoldet von großen historischen Traditionen, noch zu frisch, um
vergessen zu sein, schon zu alt, um nicht den romantischen Zauber der Distanz
zu tragen, ließ sich gut säen und fast mit magischer Gewalt wuchs die Saat zu
Riesenmassen. Hier hatte ein kaum bekannter Mann, ein Auswärtiger, einer,
der höchstens beiläufig und gelegentlich den Maßgebenden zu Gesicht gekommen
war, alle Traditionen der Dichtkunst über Bord geworfen und mit einem Schlage
ein Werk geschaffen, das nicht in pomphafter Hofoper oder in exotischer oder
exzentrischer Fremdartigkeit, sondern in der spießigen Einfalt des französischen
Kleinstadtlebens alle Elemente des großen Romans: Leidenschaft und Tragödie,
Entwicklung und Klimax und Zusammenbruch aufzuzeigen wußte, — das mit
fanatischer Deutlichkeit den Dingen ihren Namen gab und sie in Sätze einbaute,
wie man sie ähnlich künstlerisch geschliffen selbst unter den pflichtgemäß bewunderten
klassischen Stanzen der Corneille und Racine kaum entdeckt hatte. Das Motiv
zu seinen Werken fand Flaubert fast nie in seiner Phantasie,- die Anregung ist
ihm meist von außen gekommen; für die tentation ac A, /mtcmie aus einen.
Bilde Breughels, das er 1845 in der Sammlung Balbi zu Genua gesehen hatte,
seine SalammbS auf einer Reise nach Tunis, die er 1858 nacb seinem ersten
großen Bucherfolg antrat, und Madame Bovary aus einem Vorfall, wie er
nicht selten unter „Vermischtes" in den Spalten der Tageszeitungen erscheint.
In dem französischen Städtchen Ry hatte sich 1848 die Frau des Arztes Dela-
mare, geborene Delphine Couturier vergiftet, nachdem sie mit einem Gutsbesitzer
Campion und anderen Ehebruch getrieben hatte. Im Roman heißt die Arztfrau
Emma Bovary, ihr erster Liebhaber Boulanger, ihr zweiter DupuiZ! ihr Mann
wird zugrunde gerichtet und sie nimmt Arsenik. Auch die Nebenpersonen, so ein
atheistischer Apotheker Homais, kommen in der wahren Episode vor. Ob diese
freilich von dem Zauber der Romantik umkleidet gewesen ist, den der Künstler
Flaubert in diese Alltagsgeschichte hineingetragen hat, in die er seine Sehnsucht
nach dem Leben in gesteigerter Form und seine Ehrfurcht vor der unerbittlichen
Gewalt dieses Lebens gegossen hat ...... das müssen wir dahingestellt sein lassen.


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[0391] Flaubert und die andern Italien, später, 1849/51, auf einer großen und ereignisreichen Wanderung durch den Orient, Ägypten, Nubien, Syrien und die Türkei — nach dem Beispiel Chateaubriands, aber ohne den grandseigneurolen Komfort, mit dem jener seine Fahrten umgeben hatte. Das Tagebuch jener Reise, 1911 veröffentlicht, ist stellenweise mehr als offenherzig. 1856/57. das heißt die Wende seines 35. Lebens- johres ist entscheidend sür Flauberts dichterische Bedeutung. Zuerst in der, ,Kevue ete Paris", dann in Buchform erscheint Madame Bovary und trägt neben Weltruf dem Dichter die eingangs erwähnte Anklage mit nachfolgendem Freispruch ein. Inhalt und Bedeutung des ersten realistischen Romans find so bekannt, um hier erörtert zu werden. Aber ein Blick auf die Umwelt mag zur Zeitbestimmung als Reminiszenz willkommen sein. Thiers' und Michelet's Revolutions- und Napoleons-Historie sind kurz zuvor erschienen, Taine's Buch über die französischen Philosophen des 19, Jahrhunderts hat der Gesellschaft ihre Bedeutung nahe gerückt, Victor Hugo thront als Parnassier, Musset stirbt eben um die gleiche Zeit, die Dramen des Sohnes Dumas locken Tausende ins Theater und Le. Leuves „Lauseries ein I^uncii" erschienen in regelmäßiger Folge, das Nichtertum des geistreichsten Franzosen über den Geschmack stabilierend; die „Diners cle NaZn)?" sind vielleicht schon vorüber, aber im Salon Mathilde Bonaparte wird der Wert zeitgenössischer Dichter und Menschen dekretiert. George Sand's zwanzigbändige Lebensgeschichte, 1854 veröffentlicht, wird noch gelesen und ihr freundschaftlicher Verkehr mit dem jüngeren Flaubert wirft Glanz auf seine Person. Lamartine steht auf der Höhe seines Könnens und seiner Anerkennung, Berenger liegt eben auf dem Totenbett, und Balzac (im wahrsten Sinne sein Vorgänger, denn auch er hat den Bourgeois künstlerisch geadelt) ist noch unvergessen. Eine Welle von geistigen, literarischen Interessen durchflutet das Paris des zweiten Kaiserreichs, das auch politisch seinen Höhepunkt beinahe erreicht hat. In diesen Boden, gedüngt von dem Schweiß einer heftig und lebenden skeptisch empfinden¬ den Generation, übergoldet von großen historischen Traditionen, noch zu frisch, um vergessen zu sein, schon zu alt, um nicht den romantischen Zauber der Distanz zu tragen, ließ sich gut säen und fast mit magischer Gewalt wuchs die Saat zu Riesenmassen. Hier hatte ein kaum bekannter Mann, ein Auswärtiger, einer, der höchstens beiläufig und gelegentlich den Maßgebenden zu Gesicht gekommen war, alle Traditionen der Dichtkunst über Bord geworfen und mit einem Schlage ein Werk geschaffen, das nicht in pomphafter Hofoper oder in exotischer oder exzentrischer Fremdartigkeit, sondern in der spießigen Einfalt des französischen Kleinstadtlebens alle Elemente des großen Romans: Leidenschaft und Tragödie, Entwicklung und Klimax und Zusammenbruch aufzuzeigen wußte, — das mit fanatischer Deutlichkeit den Dingen ihren Namen gab und sie in Sätze einbaute, wie man sie ähnlich künstlerisch geschliffen selbst unter den pflichtgemäß bewunderten klassischen Stanzen der Corneille und Racine kaum entdeckt hatte. Das Motiv zu seinen Werken fand Flaubert fast nie in seiner Phantasie,- die Anregung ist ihm meist von außen gekommen; für die tentation ac A, /mtcmie aus einen. Bilde Breughels, das er 1845 in der Sammlung Balbi zu Genua gesehen hatte, seine SalammbS auf einer Reise nach Tunis, die er 1858 nacb seinem ersten großen Bucherfolg antrat, und Madame Bovary aus einem Vorfall, wie er nicht selten unter „Vermischtes" in den Spalten der Tageszeitungen erscheint. In dem französischen Städtchen Ry hatte sich 1848 die Frau des Arztes Dela- mare, geborene Delphine Couturier vergiftet, nachdem sie mit einem Gutsbesitzer Campion und anderen Ehebruch getrieben hatte. Im Roman heißt die Arztfrau Emma Bovary, ihr erster Liebhaber Boulanger, ihr zweiter DupuiZ! ihr Mann wird zugrunde gerichtet und sie nimmt Arsenik. Auch die Nebenpersonen, so ein atheistischer Apotheker Homais, kommen in der wahren Episode vor. Ob diese freilich von dem Zauber der Romantik umkleidet gewesen ist, den der Künstler Flaubert in diese Alltagsgeschichte hineingetragen hat, in die er seine Sehnsucht nach dem Leben in gesteigerter Form und seine Ehrfurcht vor der unerbittlichen Gewalt dieses Lebens gegossen hat ...... das müssen wir dahingestellt sein lassen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339548/391>, abgerufen am 15.05.2024.