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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Fortpflanzung des Irreseins.
um 1/3 häufiger -- von der Mutter, als vom Vater, auf die Kinder
forterbt; er fand zugleich, dass bei geisteskranker Mutter eher mehre
Kinder befallen werden, dass die Forterbung der Disposition auf die
Söhne von der Mutter und vom Vater fast gleich oft geschieht, dass
dagegen die Töchter ihre Anlage noch einmal so oft von der Mutter
als vom Vater erben. Hieraus geht hervor, dass durch Irresein der
Mutter die Kinder überhaupt mehr gefährdet sind, als durch Irresein
des Vaters, und dass es die Kinder weiblichen Geschiechts sind,
welche jener ungünstige Einfluss vorzugsweise trifft.

Viele Erfahrungen zeigen weiter, dass Kinder, welche geboren
wurden, ehe bei ihren Eltern die Geisteskrankheit zum Ausbruch kam,
seltener erkranken, als solche, welche erst nach dem Ausbruche des
Irreseins gezeugt wurden. Zuweilen indessen kommen auch Fälle
vor, wo die Kinder zuerst, vor den Eltern erkranken, indem eben
eine Menge den Ausbruch begünstigender Ursachen bei jenen
zusammentrifft, während diese durch ein glücklicheres Geschick
bis in ein höheres Alter solchen weiteren ursächlichen Einflüssen
entgingen.

Wiewohl man sich die erbliche Anlage allerdings zunächst und
hauptsächlich als eine das Gesamt-Nervensystem und namentlich das
Gehirn betreffende vorstellen muss, so hat doch die deutsche soma-
tische Schule *) mit Recht darauf aufmerksam gemacht, dass es auch
angeerbte Dispositionen zu anderartigen, primär das Nervensystem
nicht befallenden Erkrankungen gibt, welche zu deuteropathischer
Affection des Gehirns in Form von Seelenstörung Anlass geben mögen.
Wir möchten hierher namentlich die Tuberculose der Lungen, über-
haupt die chronischen Brustkrankheiten, andrerseits vielleicht einzelne
Genitalien-Affectionen rechnen.

Vergleicht man übrigens die vorliegenden Thatsachen über die
Heredität des Irreseins mit der Erblichkeit anderer Krankheiten, z. B.
der Phtisis, so findet man hier dieselben bedeutenden Differenzen
der Angaben **), welche vielleicht gerade auf nahezu gleiche Ver-
hältnisszahlen der Heredität beider Anlagen hindeuten.

*) Vgl. Jakobi, die Hauptformen etc. p. 605. Zeller, Journ. für Psychia-
trie. I. 1. p. 44. Der letztere Beobachter erwähnt dabei auch den Habitus apo-
plecticus; mit welchem Rechte, s. bei Rokitansky, Handb. d. path. Anatomie.
II. p. 801.
**) Briquet fand unter 99 Fällen von Phtisis in etwa 4/10, Louis unter
seinen Kranken nur in 1/10 der Fälle phtisische Eltern. Louis, recherches sur la
phtisie. 2me edit. Par. 1843. p. 582.
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Fortpflanzung des Irreseins.
um ⅓ häufiger — von der Mutter, als vom Vater, auf die Kinder
forterbt; er fand zugleich, dass bei geisteskranker Mutter eher mehre
Kinder befallen werden, dass die Forterbung der Disposition auf die
Söhne von der Mutter und vom Vater fast gleich oft geschieht, dass
dagegen die Töchter ihre Anlage noch einmal so oft von der Mutter
als vom Vater erben. Hieraus geht hervor, dass durch Irresein der
Mutter die Kinder überhaupt mehr gefährdet sind, als durch Irresein
des Vaters, und dass es die Kinder weiblichen Geschiechts sind,
welche jener ungünstige Einfluss vorzugsweise trifft.

Viele Erfahrungen zeigen weiter, dass Kinder, welche geboren
wurden, ehe bei ihren Eltern die Geisteskrankheit zum Ausbruch kam,
seltener erkranken, als solche, welche erst nach dem Ausbruche des
Irreseins gezeugt wurden. Zuweilen indessen kommen auch Fälle
vor, wo die Kinder zuerst, vor den Eltern erkranken, indem eben
eine Menge den Ausbruch begünstigender Ursachen bei jenen
zusammentrifft, während diese durch ein glücklicheres Geschick
bis in ein höheres Alter solchen weiteren ursächlichen Einflüssen
entgingen.

Wiewohl man sich die erbliche Anlage allerdings zunächst und
hauptsächlich als eine das Gesamt-Nervensystem und namentlich das
Gehirn betreffende vorstellen muss, so hat doch die deutsche soma-
tische Schule *) mit Recht darauf aufmerksam gemacht, dass es auch
angeerbte Dispositionen zu anderartigen, primär das Nervensystem
nicht befallenden Erkrankungen gibt, welche zu deuteropathischer
Affection des Gehirns in Form von Seelenstörung Anlass geben mögen.
Wir möchten hierher namentlich die Tuberculose der Lungen, über-
haupt die chronischen Brustkrankheiten, andrerseits vielleicht einzelne
Genitalien-Affectionen rechnen.

Vergleicht man übrigens die vorliegenden Thatsachen über die
Heredität des Irreseins mit der Erblichkeit anderer Krankheiten, z. B.
der Phtisis, so findet man hier dieselben bedeutenden Differenzen
der Angaben **), welche vielleicht gerade auf nahezu gleiche Ver-
hältnisszahlen der Heredität beider Anlagen hindeuten.

*) Vgl. Jakobi, die Hauptformen etc. p. 605. Zeller, Journ. für Psychia-
trie. I. 1. p. 44. Der letztere Beobachter erwähnt dabei auch den Habitus apo-
plecticus; mit welchem Rechte, s. bei Rokitansky, Handb. d. path. Anatomie.
II. p. 801.
**) Briquet fand unter 99 Fällen von Phtisis in etwa 4/10, Louis unter
seinen Kranken nur in 1/10 der Fälle phtisische Eltern. Louis, recherches sur la
phtisie. 2me édit. Par. 1843. p. 582.
8 *
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[115/0129] Fortpflanzung des Irreseins. um ⅓ häufiger — von der Mutter, als vom Vater, auf die Kinder forterbt; er fand zugleich, dass bei geisteskranker Mutter eher mehre Kinder befallen werden, dass die Forterbung der Disposition auf die Söhne von der Mutter und vom Vater fast gleich oft geschieht, dass dagegen die Töchter ihre Anlage noch einmal so oft von der Mutter als vom Vater erben. Hieraus geht hervor, dass durch Irresein der Mutter die Kinder überhaupt mehr gefährdet sind, als durch Irresein des Vaters, und dass es die Kinder weiblichen Geschiechts sind, welche jener ungünstige Einfluss vorzugsweise trifft. Viele Erfahrungen zeigen weiter, dass Kinder, welche geboren wurden, ehe bei ihren Eltern die Geisteskrankheit zum Ausbruch kam, seltener erkranken, als solche, welche erst nach dem Ausbruche des Irreseins gezeugt wurden. Zuweilen indessen kommen auch Fälle vor, wo die Kinder zuerst, vor den Eltern erkranken, indem eben eine Menge den Ausbruch begünstigender Ursachen bei jenen zusammentrifft, während diese durch ein glücklicheres Geschick bis in ein höheres Alter solchen weiteren ursächlichen Einflüssen entgingen. Wiewohl man sich die erbliche Anlage allerdings zunächst und hauptsächlich als eine das Gesamt-Nervensystem und namentlich das Gehirn betreffende vorstellen muss, so hat doch die deutsche soma- tische Schule *) mit Recht darauf aufmerksam gemacht, dass es auch angeerbte Dispositionen zu anderartigen, primär das Nervensystem nicht befallenden Erkrankungen gibt, welche zu deuteropathischer Affection des Gehirns in Form von Seelenstörung Anlass geben mögen. Wir möchten hierher namentlich die Tuberculose der Lungen, über- haupt die chronischen Brustkrankheiten, andrerseits vielleicht einzelne Genitalien-Affectionen rechnen. Vergleicht man übrigens die vorliegenden Thatsachen über die Heredität des Irreseins mit der Erblichkeit anderer Krankheiten, z. B. der Phtisis, so findet man hier dieselben bedeutenden Differenzen der Angaben **), welche vielleicht gerade auf nahezu gleiche Ver- hältnisszahlen der Heredität beider Anlagen hindeuten. *) Vgl. Jakobi, die Hauptformen etc. p. 605. Zeller, Journ. für Psychia- trie. I. 1. p. 44. Der letztere Beobachter erwähnt dabei auch den Habitus apo- plecticus; mit welchem Rechte, s. bei Rokitansky, Handb. d. path. Anatomie. II. p. 801. **) Briquet fand unter 99 Fällen von Phtisis in etwa 4/10, Louis unter seinen Kranken nur in 1/10 der Fälle phtisische Eltern. Louis, recherches sur la phtisie. 2me édit. Par. 1843. p. 582. 8 *

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/129>, abgerufen am 30.04.2024.