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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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von der Lunge aus entstanden.
Irreseins. Später kann die Berücksichtigung dieses Verhältnisses allein den
Aderlass nicht mehr indiciren, denn einmal ist es bekannt, wie überhaupt schon
habituell gewordene Stasen durch Blutentziehung sehr selten geheilt werden
können, dann aber haben diese mechanischen Hyperämieen oft bei längerer Dauer
weitere Folgen derselben Art, wie die "entzündlichen", nemlich Macerations-, Er-
weichungs-Processe, seröse (Oedeme) serösplastische (zu Verklebungen der
Hirnhäute führende) Exsudationen, welche vollends dem Aderlass nicht mehr
weichen können.

Nicht nur die langsamer und anhaltender wirkenden, sondern auch die acu[ - 1 Zeichen fehlt]
verlaufenden Zustände von Seelenschmerz machen Kopfcongestion, so namentlich
der Zorn und der acute Zustand von Betrübniss, in dem wir das Individuum gerne
den schweren Kopf mit den Händen stützen sehen. Es ist sehr wahrscheinlich,
dass auch diese Hyperämieen mechanische, in Folge einer Respirations- und
Circulationsstörung sind. Wir haben vor kurzem wieder ein auffallendes Beispiel
solcher Wirkungen des depressiven Affects beobachtet. Ein vollblütiger, junger
Mann hatte mit den besten Hoffnungen eine Dienstprüfung angetreten, die indessen
nicht den gewünschten Erfolg hatte. Er erfuhr diess am Abend; bis dahin ganz
wohl und heiter, verfiel er sogleich in grosse Depression, die Nacht war gänzlich
schlaflos, er konnte nicht im Bette bleiben, sondern brachte den grössten Theil
der Nacht am offenen Fenster zu, wobei ihm leichte Delirien, eine Bilderjagd vor-
kamen; bald stellte sich heftiger Kopfschmerz und Uebelsein ein. Am andern
Morgen war der Kopf ganz dunkelroth und sehr heiss, die Augen injicirt, der
Puls klein, schnell und sehr ungleich; dabei starkes Kopfweh, Agitation,
Zungenbeleg und Brechneigung. Aderlass von 1 Lb. Auf denselben schnelle
Besserung aller Symptome, der Kranke gab gleich als ihm selbst auffallend an,
wie ihm jetzt nach dem Aderlasse plötzlich Alles durchaus nicht
mehr so schwer und traurig erscheine, wie vorher
, und war jetzt erst
für Zuspruch empfänglich. Nachmittags spontanes Nasenbluten, darauf völlige
Herstellung.

Wiewohl wir nun geneigt sind, diese Wirkungsweise der depressiven Ge-
müthszustände, nemlich die Setzung einer mechanischen Gehirnhyperämie, für die
wichtigste zu halten, so ist es doch nicht unsere Ansicht, dass jene Zustände
immer und nur auf diese Weise wirken. Es ist vielmehr kein Zweifel, dass
sie eine ganz directe irritirende Folge für das Gehirn haben und dass auf diesem
primären Wege ein Irresein, so gut wie eine Epilepsie, entstehen kann. In
andern Fällen mag die chronische Verdauungsstörung, die oft jene Gemüths-
Zustände begleitet, einen anämischen Zustand bedingen, und dieser ein Causal-
Moment der Gehirnirritation abgeben. Die Auffindung des pathogenetischen
Mechanismus im Einzelfalle ist eben die Aufgabe des kundigen und rationellen
Arztes, und es ist gewiss, dass hier noch Vieles, ja vielleicht das Meiste, zu
entdecken ist.


von der Lunge aus entstanden.
Irreseins. Später kann die Berücksichtigung dieses Verhältnisses allein den
Aderlass nicht mehr indiciren, denn einmal ist es bekannt, wie überhaupt schon
habituell gewordene Stasen durch Blutentziehung sehr selten geheilt werden
können, dann aber haben diese mechanischen Hyperämieen oft bei längerer Dauer
weitere Folgen derselben Art, wie die „entzündlichen“, nemlich Macerations-, Er-
weichungs-Processe, seröse (Oedeme) serösplastische (zu Verklebungen der
Hirnhäute führende) Exsudationen, welche vollends dem Aderlass nicht mehr
weichen können.

Nicht nur die langsamer und anhaltender wirkenden, sondern auch die acu[ – 1 Zeichen fehlt]
verlaufenden Zustände von Seelenschmerz machen Kopfcongestion, so namentlich
der Zorn und der acute Zustand von Betrübniss, in dem wir das Individuum gerne
den schweren Kopf mit den Händen stützen sehen. Es ist sehr wahrscheinlich,
dass auch diese Hyperämieen mechanische, in Folge einer Respirations- und
Circulationsstörung sind. Wir haben vor kurzem wieder ein auffallendes Beispiel
solcher Wirkungen des depressiven Affects beobachtet. Ein vollblütiger, junger
Mann hatte mit den besten Hoffnungen eine Dienstprüfung angetreten, die indessen
nicht den gewünschten Erfolg hatte. Er erfuhr diess am Abend; bis dahin ganz
wohl und heiter, verfiel er sogleich in grosse Depression, die Nacht war gänzlich
schlaflos, er konnte nicht im Bette bleiben, sondern brachte den grössten Theil
der Nacht am offenen Fenster zu, wobei ihm leichte Delirien, eine Bilderjagd vor-
kamen; bald stellte sich heftiger Kopfschmerz und Uebelsein ein. Am andern
Morgen war der Kopf ganz dunkelroth und sehr heiss, die Augen injicirt, der
Puls klein, schnell und sehr ungleich; dabei starkes Kopfweh, Agitation,
Zungenbeleg und Brechneigung. Aderlass von 1 ℔. Auf denselben schnelle
Besserung aller Symptome, der Kranke gab gleich als ihm selbst auffallend an,
wie ihm jetzt nach dem Aderlasse plötzlich Alles durchaus nicht
mehr so schwer und traurig erscheine, wie vorher
, und war jetzt erst
für Zuspruch empfänglich. Nachmittags spontanes Nasenbluten, darauf völlige
Herstellung.

Wiewohl wir nun geneigt sind, diese Wirkungsweise der depressiven Ge-
müthszustände, nemlich die Setzung einer mechanischen Gehirnhyperämie, für die
wichtigste zu halten, so ist es doch nicht unsere Ansicht, dass jene Zustände
immer und nur auf diese Weise wirken. Es ist vielmehr kein Zweifel, dass
sie eine ganz directe irritirende Folge für das Gehirn haben und dass auf diesem
primären Wege ein Irresein, so gut wie eine Epilepsie, entstehen kann. In
andern Fällen mag die chronische Verdauungsstörung, die oft jene Gemüths-
Zustände begleitet, einen anämischen Zustand bedingen, und dieser ein Causal-
Moment der Gehirnirritation abgeben. Die Auffindung des pathogenetischen
Mechanismus im Einzelfalle ist eben die Aufgabe des kundigen und rationellen
Arztes, und es ist gewiss, dass hier noch Vieles, ja vielleicht das Meiste, zu
entdecken ist.


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[125/0139] von der Lunge aus entstanden. Irreseins. Später kann die Berücksichtigung dieses Verhältnisses allein den Aderlass nicht mehr indiciren, denn einmal ist es bekannt, wie überhaupt schon habituell gewordene Stasen durch Blutentziehung sehr selten geheilt werden können, dann aber haben diese mechanischen Hyperämieen oft bei längerer Dauer weitere Folgen derselben Art, wie die „entzündlichen“, nemlich Macerations-, Er- weichungs-Processe, seröse (Oedeme) serösplastische (zu Verklebungen der Hirnhäute führende) Exsudationen, welche vollends dem Aderlass nicht mehr weichen können. Nicht nur die langsamer und anhaltender wirkenden, sondern auch die acu_ verlaufenden Zustände von Seelenschmerz machen Kopfcongestion, so namentlich der Zorn und der acute Zustand von Betrübniss, in dem wir das Individuum gerne den schweren Kopf mit den Händen stützen sehen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass auch diese Hyperämieen mechanische, in Folge einer Respirations- und Circulationsstörung sind. Wir haben vor kurzem wieder ein auffallendes Beispiel solcher Wirkungen des depressiven Affects beobachtet. Ein vollblütiger, junger Mann hatte mit den besten Hoffnungen eine Dienstprüfung angetreten, die indessen nicht den gewünschten Erfolg hatte. Er erfuhr diess am Abend; bis dahin ganz wohl und heiter, verfiel er sogleich in grosse Depression, die Nacht war gänzlich schlaflos, er konnte nicht im Bette bleiben, sondern brachte den grössten Theil der Nacht am offenen Fenster zu, wobei ihm leichte Delirien, eine Bilderjagd vor- kamen; bald stellte sich heftiger Kopfschmerz und Uebelsein ein. Am andern Morgen war der Kopf ganz dunkelroth und sehr heiss, die Augen injicirt, der Puls klein, schnell und sehr ungleich; dabei starkes Kopfweh, Agitation, Zungenbeleg und Brechneigung. Aderlass von 1 ℔. Auf denselben schnelle Besserung aller Symptome, der Kranke gab gleich als ihm selbst auffallend an, wie ihm jetzt nach dem Aderlasse plötzlich Alles durchaus nicht mehr so schwer und traurig erscheine, wie vorher, und war jetzt erst für Zuspruch empfänglich. Nachmittags spontanes Nasenbluten, darauf völlige Herstellung. Wiewohl wir nun geneigt sind, diese Wirkungsweise der depressiven Ge- müthszustände, nemlich die Setzung einer mechanischen Gehirnhyperämie, für die wichtigste zu halten, so ist es doch nicht unsere Ansicht, dass jene Zustände immer und nur auf diese Weise wirken. Es ist vielmehr kein Zweifel, dass sie eine ganz directe irritirende Folge für das Gehirn haben und dass auf diesem primären Wege ein Irresein, so gut wie eine Epilepsie, entstehen kann. In andern Fällen mag die chronische Verdauungsstörung, die oft jene Gemüths- Zustände begleitet, einen anämischen Zustand bedingen, und dieser ein Causal- Moment der Gehirnirritation abgeben. Die Auffindung des pathogenetischen Mechanismus im Einzelfalle ist eben die Aufgabe des kundigen und rationellen Arztes, und es ist gewiss, dass hier noch Vieles, ja vielleicht das Meiste, zu entdecken ist.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/139>, abgerufen am 04.05.2024.