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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Genitalienkrankheiten.
Trieb sich nun gerne in der Form des verliebten und sexuellen
Wahnsinns, bald im idealen Gewande, bald in nackter Lüsternheit,
äussert.

Beim männlichen Geschlechte sind alle jene sexuellen
Derangements, welche man unter dem Namen der unwillkürlichen
Samenverluste, der Pollutio diurna etc. begreift, von grosser
Wichtigkeit. Diese Anomalieen bei denen offenbar in den wenigsten
Fällen der Verlust der spermatischen Flüssigkeit die Hauptsache ist,
beruhen, wie von Lallemand gezeigt wurde, häufig auf localen Er-
krankungen der Urethralschleimhaut, der Samenbläschen etc., in andern
Fällen geht die Störung offenbar vom Nervensystem aus; gewöhnlich
geht ihnen längere Zeit gesteigerter Sexualreiz (übermässige Pollu-
tionen), weniger als ihre Ursache, denn als Zeichen der schon be-
stehenden Irritation voraus; einmal ausgebildet äussern sie sich in
bedeutender Herabsetzung der sexuellen Empfindungen, Abnahme der
Erection, Impotenz, verbunden mit allen möglichen sensitiven und
psychischen Dysästhesieen, deren Gruppe theils eine wahre männliche
Hysterie, theils einen tief hypochondrischen Zustand darstellt.

Durch die Schrift von Lallemand *) veranlasst, haben wir, bei einer
Anzahl männlicher Geisteskranken unsere Aufmerksamkeit auf diesen Punkt ge-
richtet -- eine kitzliche Untersuchung, da die Kranken in dieser Beziehung ge-
wöhnlich misstrauisch und ihre Angaben unzuverlässig sind und es grosser Vor-
sicht bedarf, um ihre Aufmerksamkeit nicht zu sehr auf diese Verhältnisse zu
determiniren. Nur bei Einem Kranken gelang es uns, entschiedene Pollutio diurna
(bei der Stuhlentleerung) microscopisch festzustellen; aber so viel hat sich uns
mit völliger Sicherheit ergeben, dass bei einer unerwartet grossen Anzahl eine,
dem Kranken meist sehr fühlbare, Abnahme der sexuellen Empfindungen und des
Geschlechtstriebs, zuweilen auch wirkliche Impotenz, der Ausbildung des Irre-
seins längere Zeit vorausging, wobei es sich freilich fast niemals näher entschei-
den liess, ob solche die Folgen oft vorausgegangener sexueller Excesse und
Missbräuche, oder derjenigen widrigen Gemüthsaffecte, die eben auch zu Ur-
sachen des Irreseins wurden, ob sie die ersten Symptome des melancholischen
Stadiums selbst waren oder von localen Erkrankungen der Genitalien herrührten.
In 2 Fällen, wo das letztere entschieden schien, haben wir die von Lallemand
empfohlene Cauterisation der pars prostatica urethrae vorgenommen, in dem einen
Falle ohne irgend bemerkbaren Einfluss auf die Krankheit, in dem andern besei-
tigte die Operation verschiedene unangenehme Empfindungen in den Genitalien,
worüber der Kranke sehr geklagt hatte **) (Gefühle von beständigem Aus- und

*) Vgl. seine Krankheitsgeschichten und sein Resume. III. p. 127--200.
**) Cooper erzählt in seinen Vorlesungen einen Fall, wo durch die Operation
eine ungeheure Menge von Prostatasteinen entleert wurde. Diese Steine hatten
nicht nur Schmerz, sondern auch eine anhaltende, an Wahnsinn grenzende Auf-
regung des Gemüths zur Folge gehabt.
Griesinger, psych. Krankhtn. 10

Genitalienkrankheiten.
Trieb sich nun gerne in der Form des verliebten und sexuellen
Wahnsinns, bald im idealen Gewande, bald in nackter Lüsternheit,
äussert.

Beim männlichen Geschlechte sind alle jene sexuellen
Derangements, welche man unter dem Namen der unwillkürlichen
Samenverluste, der Pollutio diurna etc. begreift, von grosser
Wichtigkeit. Diese Anomalieen bei denen offenbar in den wenigsten
Fällen der Verlust der spermatischen Flüssigkeit die Hauptsache ist,
beruhen, wie von Lallemand gezeigt wurde, häufig auf localen Er-
krankungen der Urethralschleimhaut, der Samenbläschen etc., in andern
Fällen geht die Störung offenbar vom Nervensystem aus; gewöhnlich
geht ihnen längere Zeit gesteigerter Sexualreiz (übermässige Pollu-
tionen), weniger als ihre Ursache, denn als Zeichen der schon be-
stehenden Irritation voraus; einmal ausgebildet äussern sie sich in
bedeutender Herabsetzung der sexuellen Empfindungen, Abnahme der
Erection, Impotenz, verbunden mit allen möglichen sensitiven und
psychischen Dysästhesieen, deren Gruppe theils eine wahre männliche
Hysterie, theils einen tief hypochondrischen Zustand darstellt.

Durch die Schrift von Lallemand *) veranlasst, haben wir, bei einer
Anzahl männlicher Geisteskranken unsere Aufmerksamkeit auf diesen Punkt ge-
richtet — eine kitzliche Untersuchung, da die Kranken in dieser Beziehung ge-
wöhnlich misstrauisch und ihre Angaben unzuverlässig sind und es grosser Vor-
sicht bedarf, um ihre Aufmerksamkeit nicht zu sehr auf diese Verhältnisse zu
determiniren. Nur bei Einem Kranken gelang es uns, entschiedene Pollutio diurna
(bei der Stuhlentleerung) microscopisch festzustellen; aber so viel hat sich uns
mit völliger Sicherheit ergeben, dass bei einer unerwartet grossen Anzahl eine,
dem Kranken meist sehr fühlbare, Abnahme der sexuellen Empfindungen und des
Geschlechtstriebs, zuweilen auch wirkliche Impotenz, der Ausbildung des Irre-
seins längere Zeit vorausging, wobei es sich freilich fast niemals näher entschei-
den liess, ob solche die Folgen oft vorausgegangener sexueller Excesse und
Missbräuche, oder derjenigen widrigen Gemüthsaffecte, die eben auch zu Ur-
sachen des Irreseins wurden, ob sie die ersten Symptome des melancholischen
Stadiums selbst waren oder von localen Erkrankungen der Genitalien herrührten.
In 2 Fällen, wo das letztere entschieden schien, haben wir die von Lallemand
empfohlene Cauterisation der pars prostatica urethrae vorgenommen, in dem einen
Falle ohne irgend bemerkbaren Einfluss auf die Krankheit, in dem andern besei-
tigte die Operation verschiedene unangenehme Empfindungen in den Genitalien,
worüber der Kranke sehr geklagt hatte **) (Gefühle von beständigem Aus- und

*) Vgl. seine Krankheitsgeschichten und sein Resumé. III. p. 127—200.
**) Cooper erzählt in seinen Vorlesungen einen Fall, wo durch die Operation
eine ungeheure Menge von Prostatasteinen entleert wurde. Diese Steine hatten
nicht nur Schmerz, sondern auch eine anhaltende, an Wahnsinn grenzende Auf-
regung des Gemüths zur Folge gehabt.
Griesinger, psych. Krankhtn. 10
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[145/0159] Genitalienkrankheiten. Trieb sich nun gerne in der Form des verliebten und sexuellen Wahnsinns, bald im idealen Gewande, bald in nackter Lüsternheit, äussert. Beim männlichen Geschlechte sind alle jene sexuellen Derangements, welche man unter dem Namen der unwillkürlichen Samenverluste, der Pollutio diurna etc. begreift, von grosser Wichtigkeit. Diese Anomalieen bei denen offenbar in den wenigsten Fällen der Verlust der spermatischen Flüssigkeit die Hauptsache ist, beruhen, wie von Lallemand gezeigt wurde, häufig auf localen Er- krankungen der Urethralschleimhaut, der Samenbläschen etc., in andern Fällen geht die Störung offenbar vom Nervensystem aus; gewöhnlich geht ihnen längere Zeit gesteigerter Sexualreiz (übermässige Pollu- tionen), weniger als ihre Ursache, denn als Zeichen der schon be- stehenden Irritation voraus; einmal ausgebildet äussern sie sich in bedeutender Herabsetzung der sexuellen Empfindungen, Abnahme der Erection, Impotenz, verbunden mit allen möglichen sensitiven und psychischen Dysästhesieen, deren Gruppe theils eine wahre männliche Hysterie, theils einen tief hypochondrischen Zustand darstellt. Durch die Schrift von Lallemand *) veranlasst, haben wir, bei einer Anzahl männlicher Geisteskranken unsere Aufmerksamkeit auf diesen Punkt ge- richtet — eine kitzliche Untersuchung, da die Kranken in dieser Beziehung ge- wöhnlich misstrauisch und ihre Angaben unzuverlässig sind und es grosser Vor- sicht bedarf, um ihre Aufmerksamkeit nicht zu sehr auf diese Verhältnisse zu determiniren. Nur bei Einem Kranken gelang es uns, entschiedene Pollutio diurna (bei der Stuhlentleerung) microscopisch festzustellen; aber so viel hat sich uns mit völliger Sicherheit ergeben, dass bei einer unerwartet grossen Anzahl eine, dem Kranken meist sehr fühlbare, Abnahme der sexuellen Empfindungen und des Geschlechtstriebs, zuweilen auch wirkliche Impotenz, der Ausbildung des Irre- seins längere Zeit vorausging, wobei es sich freilich fast niemals näher entschei- den liess, ob solche die Folgen oft vorausgegangener sexueller Excesse und Missbräuche, oder derjenigen widrigen Gemüthsaffecte, die eben auch zu Ur- sachen des Irreseins wurden, ob sie die ersten Symptome des melancholischen Stadiums selbst waren oder von localen Erkrankungen der Genitalien herrührten. In 2 Fällen, wo das letztere entschieden schien, haben wir die von Lallemand empfohlene Cauterisation der pars prostatica urethrae vorgenommen, in dem einen Falle ohne irgend bemerkbaren Einfluss auf die Krankheit, in dem andern besei- tigte die Operation verschiedene unangenehme Empfindungen in den Genitalien, worüber der Kranke sehr geklagt hatte **) (Gefühle von beständigem Aus- und *) Vgl. seine Krankheitsgeschichten und sein Resumé. III. p. 127—200. **) Cooper erzählt in seinen Vorlesungen einen Fall, wo durch die Operation eine ungeheure Menge von Prostatasteinen entleert wurde. Diese Steine hatten nicht nur Schmerz, sondern auch eine anhaltende, an Wahnsinn grenzende Auf- regung des Gemüths zur Folge gehabt. Griesinger, psych. Krankhtn. 10

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/159>, abgerufen am 01.05.2024.