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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Falschheit der poet. und moralist. Auffassungen.
diese Zustände mit Umgehung ihrer organischen Grundlagen, nur von
der geistigen Seite, als Resultate vorausgegangener sittlicher Conflicte
auffassen, und nur das, was diesem Zwecke dient, hervorheben muss,
wird seine Schilderung zum mindesten einseitig. Ein gleicher, und
wegen des Ernsts, mit dem einzelne solche Versuche auftraten, noch
schwererer Vorwurf trifft die moralistischen Betrachtungsweisen. Nichts
ist falscher, nichts wird mehr von der täglichen Beobachtung ver-
worfen, als jeder Versuch, das Wesen der Geisteskrankheiten in das
sittliche Gebiet zu verlegen. Laut genug sprechen freilich die That-
sachen für eine sehr häufige psychische Entstehungsweise dieser
Krankheiten; wie könnte es anders sein, da die psychischen Ursachen
auch für die übrigen Gehirn- und Nervenkrankheiten zu den wichtig-
sten und häufigsten gehören? -- Der jeweilige Zustand des Vorstel-
lens und Wollens ist wesentlich abhängig, ja zum Theil das noth-
wendige Ergebniss der Summe alles früheren Vorstellens und Wollens,
und damit freilich ist im psychischen Leben selbst eine reichliche
Quelle ursächlicher Momente geöffnet. Aber, während die Sphäre
der Sittlichkeit ganz innerhalb des bewussten, freien Denkens ent-
halten ist, liegen die Ausgangspunkte der anomalen geistigen Pro-
cesse, zu denen diese Gehirnkrankheiten Anlass geben, auf einem
ganz andern Gebiete. Aus dunkeln Verstimmungen des psychischen
Gemeingefühls, der Selbstempfindung gehen beim Irresein ursprüng-
lich affectartige Seelenzustände hervor, und wenn sich aus diesen
ein, den Kranken überwältigendes falsches Vorstellen und Streben
herausgebildet hat, so ist dieser schon in einem Zustande, dem die
ersten Voraussetzungen aller Sittlichkeit, die Besonnenheit, die Mög-
lichkeit einer Ueberlegung und Wahl, fehlen, und all sein Thun kann
gar nicht mehr unter den sittlichen Gesichtspunkt fallen.

Eine wirkliche Polemik gegen die moralistischen Auffassungen der Geistes-
krankheiten ist heutzutage nicht mehr nöthig. Zum Ueberfluss mag gegen die-
selben an die vielen Fälle rein körperlicher Entstehung der Geisteskrankheiten --
durch Kopfverletzungen, Narcotica etc. -- an ihre Erblichkeit -- eine Familien-
anlage, die sich oft bei andern Anverwandten als Disposition zu andern schwe-
ren Neurosen, Epilepsie, Hysterie etc. ausspricht -- an das Typische, das nicht
selten ihr Verlauf, wie der der übrigen Nervenkrankheiten zeigt, an den oft
beobachteten Wechsel mit andern Krankheiten -- mit Intermittens, mit chron.
Spinalirritation -- an die Möglichkeit schneller Heilungen, an die Analogie mit
den Traumzuständen etc. erinnert werden. Die beste Widerlegung aber wird die
Einsicht in die thatsächlichen Hergänge selbst abgeben.


Falschheit der poet. und moralist. Auffassungen.
diese Zustände mit Umgehung ihrer organischen Grundlagen, nur von
der geistigen Seite, als Resultate vorausgegangener sittlicher Conflicte
auffassen, und nur das, was diesem Zwecke dient, hervorheben muss,
wird seine Schilderung zum mindesten einseitig. Ein gleicher, und
wegen des Ernsts, mit dem einzelne solche Versuche auftraten, noch
schwererer Vorwurf trifft die moralistischen Betrachtungsweisen. Nichts
ist falscher, nichts wird mehr von der täglichen Beobachtung ver-
worfen, als jeder Versuch, das Wesen der Geisteskrankheiten in das
sittliche Gebiet zu verlegen. Laut genug sprechen freilich die That-
sachen für eine sehr häufige psychische Entstehungsweise dieser
Krankheiten; wie könnte es anders sein, da die psychischen Ursachen
auch für die übrigen Gehirn- und Nervenkrankheiten zu den wichtig-
sten und häufigsten gehören? — Der jeweilige Zustand des Vorstel-
lens und Wollens ist wesentlich abhängig, ja zum Theil das noth-
wendige Ergebniss der Summe alles früheren Vorstellens und Wollens,
und damit freilich ist im psychischen Leben selbst eine reichliche
Quelle ursächlicher Momente geöffnet. Aber, während die Sphäre
der Sittlichkeit ganz innerhalb des bewussten, freien Denkens ent-
halten ist, liegen die Ausgangspunkte der anomalen geistigen Pro-
cesse, zu denen diese Gehirnkrankheiten Anlass geben, auf einem
ganz andern Gebiete. Aus dunkeln Verstimmungen des psychischen
Gemeingefühls, der Selbstempfindung gehen beim Irresein ursprüng-
lich affectartige Seelenzustände hervor, und wenn sich aus diesen
ein, den Kranken überwältigendes falsches Vorstellen und Streben
herausgebildet hat, so ist dieser schon in einem Zustande, dem die
ersten Voraussetzungen aller Sittlichkeit, die Besonnenheit, die Mög-
lichkeit einer Ueberlegung und Wahl, fehlen, und all sein Thun kann
gar nicht mehr unter den sittlichen Gesichtspunkt fallen.

Eine wirkliche Polemik gegen die moralistischen Auffassungen der Geistes-
krankheiten ist heutzutage nicht mehr nöthig. Zum Ueberfluss mag gegen die-
selben an die vielen Fälle rein körperlicher Entstehung der Geisteskrankheiten —
durch Kopfverletzungen, Narcotica etc. — an ihre Erblichkeit — eine Familien-
anlage, die sich oft bei andern Anverwandten als Disposition zu andern schwe-
ren Neurosen, Epilepsie, Hysterie etc. ausspricht — an das Typische, das nicht
selten ihr Verlauf, wie der der übrigen Nervenkrankheiten zeigt, an den oft
beobachteten Wechsel mit andern Krankheiten — mit Intermittens, mit chron.
Spinalirritation — an die Möglichkeit schneller Heilungen, an die Analogie mit
den Traumzuständen etc. erinnert werden. Die beste Widerlegung aber wird die
Einsicht in die thatsächlichen Hergänge selbst abgeben.


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[9/0023] Falschheit der poet. und moralist. Auffassungen. diese Zustände mit Umgehung ihrer organischen Grundlagen, nur von der geistigen Seite, als Resultate vorausgegangener sittlicher Conflicte auffassen, und nur das, was diesem Zwecke dient, hervorheben muss, wird seine Schilderung zum mindesten einseitig. Ein gleicher, und wegen des Ernsts, mit dem einzelne solche Versuche auftraten, noch schwererer Vorwurf trifft die moralistischen Betrachtungsweisen. Nichts ist falscher, nichts wird mehr von der täglichen Beobachtung ver- worfen, als jeder Versuch, das Wesen der Geisteskrankheiten in das sittliche Gebiet zu verlegen. Laut genug sprechen freilich die That- sachen für eine sehr häufige psychische Entstehungsweise dieser Krankheiten; wie könnte es anders sein, da die psychischen Ursachen auch für die übrigen Gehirn- und Nervenkrankheiten zu den wichtig- sten und häufigsten gehören? — Der jeweilige Zustand des Vorstel- lens und Wollens ist wesentlich abhängig, ja zum Theil das noth- wendige Ergebniss der Summe alles früheren Vorstellens und Wollens, und damit freilich ist im psychischen Leben selbst eine reichliche Quelle ursächlicher Momente geöffnet. Aber, während die Sphäre der Sittlichkeit ganz innerhalb des bewussten, freien Denkens ent- halten ist, liegen die Ausgangspunkte der anomalen geistigen Pro- cesse, zu denen diese Gehirnkrankheiten Anlass geben, auf einem ganz andern Gebiete. Aus dunkeln Verstimmungen des psychischen Gemeingefühls, der Selbstempfindung gehen beim Irresein ursprüng- lich affectartige Seelenzustände hervor, und wenn sich aus diesen ein, den Kranken überwältigendes falsches Vorstellen und Streben herausgebildet hat, so ist dieser schon in einem Zustande, dem die ersten Voraussetzungen aller Sittlichkeit, die Besonnenheit, die Mög- lichkeit einer Ueberlegung und Wahl, fehlen, und all sein Thun kann gar nicht mehr unter den sittlichen Gesichtspunkt fallen. Eine wirkliche Polemik gegen die moralistischen Auffassungen der Geistes- krankheiten ist heutzutage nicht mehr nöthig. Zum Ueberfluss mag gegen die- selben an die vielen Fälle rein körperlicher Entstehung der Geisteskrankheiten — durch Kopfverletzungen, Narcotica etc. — an ihre Erblichkeit — eine Familien- anlage, die sich oft bei andern Anverwandten als Disposition zu andern schwe- ren Neurosen, Epilepsie, Hysterie etc. ausspricht — an das Typische, das nicht selten ihr Verlauf, wie der der übrigen Nervenkrankheiten zeigt, an den oft beobachteten Wechsel mit andern Krankheiten — mit Intermittens, mit chron. Spinalirritation — an die Möglichkeit schneller Heilungen, an die Analogie mit den Traumzuständen etc. erinnert werden. Die beste Widerlegung aber wird die Einsicht in die thatsächlichen Hergänge selbst abgeben.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/23>, abgerufen am 28.04.2024.