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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Religion.
Vorsicht. Religiöse Erbauung darf keinem Kranken fehlen, der Ver-
langen und Bedürfniss darnach hat; es würde aber gegen einen er-
sten Grundsatz der psychischen Behandlung streiten, wenn man solche
Erbauung dem Kranken aufdringen und damit Interessen bei ihm in
Bewegung setzen wollte, die keine Grundlagen in seinem Herzen
haben; von völliger Unkenntniss mit dem Wesen und den Hergängen
dieser Krankheiten würde vollends die Idee zeugen, auf dem Wege
der religiösen Bearbeitung, der Besserung und Bekehrung das Irre-
sein direct heilen zu wollen. Alle solche Einwirkung kann nur den
Zweck haben, dem Kranken Beruhigung, Trost und Hoffnung zu ge-
ben, seine Aufmerksamkeit von den krankhaften Vorstellungen ab und
auf ein ernstes und bedeutendes Thema hinzurichten, die Denk- und
Empfindungsweise seines gesunden Daseins wieder zu beleben. Wie
weit der Versuch gehen soll, solche Zwecke durch diese Art psy-
chischer Einwirkung zu erreichen, darüber hat nur der Arzt zu ur-
theilen. Dieser wird niemals die grausame und ganz vergebliche Zu-
muthung dulden, dass dem Melancholischen zu seinem selbstquäle-
rischen Jammer hin noch das ernste Geschäft der Busse auferlegt
werde, oder dass verschüchterte und verzweifelnde Kranke auch noch
durch Drohungen mit der Hölle geschreckt werden. Schwermüthige,
Maniaci, wenn an ihnen nicht alle derartige Erregung gänzlich ab-
gleitet, und Verrückte bemächtigen sich zur Nährung ihrer Delirien
allzugerne der ihnen auf diesem Wege dargebotenen Vorstellungen.
Wird indessen bei der religiösen Einwirkung mit der nöthigen Vor-
sicht verfahren, werden nur diejenigen Seiten der Religion benützt,
die auf passende Weise zum Gefühle sprechen, und ist der Geist-
liche einsichtig genug, um den einzigen Zweck der Krankenheilung
im Auge zu haben, so sind regelmässige kirchliche Erbauungen für
beide Confessionen in den Anstalten höchst passend, und man sieht
sehr häufig, wie deren Besuch, ganz abgesehen vom Inhalte, dem
Kranken durch die Nothwendigkeit, sich eine Zeit lang äusserlich zu
sammeln, höchst wohlthätig wird.

Einzelne Irrenärzte haben verlangt, dass die ganze Psychiatrie eine speci-
fisch christliche sein soll. Allein es nehmen auch Juden die Hülfe des Irren-
arztes und seiner Wissenschaft in Anspruch, und da es kein abstractes, nur ein
confessionelles Christenthum gibt, so müsste es begreiflich eine eigene protestan-
tische, catholische etc. und wieder eine jüdische, heidnische Psychiatrie geben.
Es ist wohl möglich, dass auch Solches noch verlangt wird.

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Religion.
Vorsicht. Religiöse Erbauung darf keinem Kranken fehlen, der Ver-
langen und Bedürfniss darnach hat; es würde aber gegen einen er-
sten Grundsatz der psychischen Behandlung streiten, wenn man solche
Erbauung dem Kranken aufdringen und damit Interessen bei ihm in
Bewegung setzen wollte, die keine Grundlagen in seinem Herzen
haben; von völliger Unkenntniss mit dem Wesen und den Hergängen
dieser Krankheiten würde vollends die Idee zeugen, auf dem Wege
der religiösen Bearbeitung, der Besserung und Bekehrung das Irre-
sein direct heilen zu wollen. Alle solche Einwirkung kann nur den
Zweck haben, dem Kranken Beruhigung, Trost und Hoffnung zu ge-
ben, seine Aufmerksamkeit von den krankhaften Vorstellungen ab und
auf ein ernstes und bedeutendes Thema hinzurichten, die Denk- und
Empfindungsweise seines gesunden Daseins wieder zu beleben. Wie
weit der Versuch gehen soll, solche Zwecke durch diese Art psy-
chischer Einwirkung zu erreichen, darüber hat nur der Arzt zu ur-
theilen. Dieser wird niemals die grausame und ganz vergebliche Zu-
muthung dulden, dass dem Melancholischen zu seinem selbstquäle-
rischen Jammer hin noch das ernste Geschäft der Busse auferlegt
werde, oder dass verschüchterte und verzweifelnde Kranke auch noch
durch Drohungen mit der Hölle geschreckt werden. Schwermüthige,
Maniaci, wenn an ihnen nicht alle derartige Erregung gänzlich ab-
gleitet, und Verrückte bemächtigen sich zur Nährung ihrer Delirien
allzugerne der ihnen auf diesem Wege dargebotenen Vorstellungen.
Wird indessen bei der religiösen Einwirkung mit der nöthigen Vor-
sicht verfahren, werden nur diejenigen Seiten der Religion benützt,
die auf passende Weise zum Gefühle sprechen, und ist der Geist-
liche einsichtig genug, um den einzigen Zweck der Krankenheilung
im Auge zu haben, so sind regelmässige kirchliche Erbauungen für
beide Confessionen in den Anstalten höchst passend, und man sieht
sehr häufig, wie deren Besuch, ganz abgesehen vom Inhalte, dem
Kranken durch die Nothwendigkeit, sich eine Zeit lang äusserlich zu
sammeln, höchst wohlthätig wird.

Einzelne Irrenärzte haben verlangt, dass die ganze Psychiatrie eine speci-
fisch christliche sein soll. Allein es nehmen auch Juden die Hülfe des Irren-
arztes und seiner Wissenschaft in Anspruch, und da es kein abstractes, nur ein
confessionelles Christenthum gibt, so müsste es begreiflich eine eigene protestan-
tische, catholische etc. und wieder eine jüdische, heidnische Psychiatrie geben.
Es ist wohl möglich, dass auch Solches noch verlangt wird.

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[371/0385] Religion. Vorsicht. Religiöse Erbauung darf keinem Kranken fehlen, der Ver- langen und Bedürfniss darnach hat; es würde aber gegen einen er- sten Grundsatz der psychischen Behandlung streiten, wenn man solche Erbauung dem Kranken aufdringen und damit Interessen bei ihm in Bewegung setzen wollte, die keine Grundlagen in seinem Herzen haben; von völliger Unkenntniss mit dem Wesen und den Hergängen dieser Krankheiten würde vollends die Idee zeugen, auf dem Wege der religiösen Bearbeitung, der Besserung und Bekehrung das Irre- sein direct heilen zu wollen. Alle solche Einwirkung kann nur den Zweck haben, dem Kranken Beruhigung, Trost und Hoffnung zu ge- ben, seine Aufmerksamkeit von den krankhaften Vorstellungen ab und auf ein ernstes und bedeutendes Thema hinzurichten, die Denk- und Empfindungsweise seines gesunden Daseins wieder zu beleben. Wie weit der Versuch gehen soll, solche Zwecke durch diese Art psy- chischer Einwirkung zu erreichen, darüber hat nur der Arzt zu ur- theilen. Dieser wird niemals die grausame und ganz vergebliche Zu- muthung dulden, dass dem Melancholischen zu seinem selbstquäle- rischen Jammer hin noch das ernste Geschäft der Busse auferlegt werde, oder dass verschüchterte und verzweifelnde Kranke auch noch durch Drohungen mit der Hölle geschreckt werden. Schwermüthige, Maniaci, wenn an ihnen nicht alle derartige Erregung gänzlich ab- gleitet, und Verrückte bemächtigen sich zur Nährung ihrer Delirien allzugerne der ihnen auf diesem Wege dargebotenen Vorstellungen. Wird indessen bei der religiösen Einwirkung mit der nöthigen Vor- sicht verfahren, werden nur diejenigen Seiten der Religion benützt, die auf passende Weise zum Gefühle sprechen, und ist der Geist- liche einsichtig genug, um den einzigen Zweck der Krankenheilung im Auge zu haben, so sind regelmässige kirchliche Erbauungen für beide Confessionen in den Anstalten höchst passend, und man sieht sehr häufig, wie deren Besuch, ganz abgesehen vom Inhalte, dem Kranken durch die Nothwendigkeit, sich eine Zeit lang äusserlich zu sammeln, höchst wohlthätig wird. Einzelne Irrenärzte haben verlangt, dass die ganze Psychiatrie eine speci- fisch christliche sein soll. Allein es nehmen auch Juden die Hülfe des Irren- arztes und seiner Wissenschaft in Anspruch, und da es kein abstractes, nur ein confessionelles Christenthum gibt, so müsste es begreiflich eine eigene protestan- tische, catholische etc. und wieder eine jüdische, heidnische Psychiatrie geben. Es ist wohl möglich, dass auch Solches noch verlangt wird. 24 *

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 371. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/385>, abgerufen am 28.04.2024.