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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Gründe für und gegen Trennung

Es ist, wo Neubauten errichtet werden sollen, ohne Zweifel das
minder kostspielige, indem, wie bemerkt, hier manche Gebäude und
Einrichtungen für beide Anstalten gemeinsam sind, also nur einmal
da zu sein brauchen, indem viele Kranke unter Einer Verwaltung
vereinigt sind, und weniger Personal an Aerzten und Beamten erfordert
wird, indem ferner eine solche Anstalt sich eher durch ihre eigene
Production und Arbeit, welche hauptsächlich von den Bewohnern der
Pflegeanstalt geschieht, also mit geringerem Staatszuschuss erhalten
kann. Als weitere Gründe für solche Vereinigung werden angeführt,
dass die Bestimmungen über Heilbarkeit oder Unheilbarkeit höchst
schwankend und unsicher seien *), dass in der relativ verbundenen
Anstalt der Kranke in allen Stadien seines Irreseins von demselben
Arzte beobachtet und seine Krankheit bis an ihr Ende verfolgt werden
könne, dass dabei die Aufnahmen, ungestört durch Verhandlungen über
die Wahl der passenden Anstalt, die sich sonst auf die Prognose stützen
muss, beschleunigt werden, dass solche Anstalten einen leichten
Ueberblick über die ganze Irrenanzahl eines Landes oder einer Pro-
vinz gewähren, dass die für unheilbar Gehaltenen nöthigenfalls sehr
leicht wieder in die Heilanstalt zurückversetzt werden können, wäh-
rend dagegen die Versetzung der Kranken aus der Heil- in die Pfleg-
Anstalt nicht nur umständlich und kostspielig, sondern auch für den
Kranken und seine Angehörigen sehr hart und niederschlagend, und
eine Rückversetzung in die Heilanstalt beim etwaigen Wiedereintritt
günstigerer Aussichten kaum mehr thunlich sei.

Allein die Pflegeanstalten dürfen keine Orte sein, denen das
"Lasciate ogni speranza" an die Stirne geschrieben ist; sie müssen,
wiewohl durchaus für veraltete, chronische Fälle eingerichtet, doch
in der Persönlichkeit des Arztes und in ihren äusseren Verhältnissen
immer noch die Mittel bieten, welche die in einzelnen, seltenen
Fällen wiederkehrende Hoffnung auf Genesung erfordert. In der That
genesen auch in den Pflegeanstalten von Zeit zu Zeit noch einzelne
Kranke, und zwar ohne Dementi für die Heilanstalt, welche mit der
Uebergabe solcher einzelner Kranken nur sagen wollte, dass eben
sie dem Kranken nichts mehr zu gewähren vermöge, wohl aber viel-

*) Einzelne Aerzte behaupten, von den Geisteskranken wisse nur Gott, ob
sie heilbar oder unheilbar seien. S. das Capitel von der Prognose. Für die grosse
Mehrzahl
der Fälle ist die Entscheidung über Heilbarkeit oder Unheilbarkeit
für einen geübten Irrenarzt nach mehrmonatlicher Beobachtung nicht nur möglich,
sondern sogar leicht, und ebenso sicher, als das prognostische Urtheil über jede
andere Krankheit.
Gründe für und gegen Trennung

Es ist, wo Neubauten errichtet werden sollen, ohne Zweifel das
minder kostspielige, indem, wie bemerkt, hier manche Gebäude und
Einrichtungen für beide Anstalten gemeinsam sind, also nur einmal
da zu sein brauchen, indem viele Kranke unter Einer Verwaltung
vereinigt sind, und weniger Personal an Aerzten und Beamten erfordert
wird, indem ferner eine solche Anstalt sich eher durch ihre eigene
Production und Arbeit, welche hauptsächlich von den Bewohnern der
Pflegeanstalt geschieht, also mit geringerem Staatszuschuss erhalten
kann. Als weitere Gründe für solche Vereinigung werden angeführt,
dass die Bestimmungen über Heilbarkeit oder Unheilbarkeit höchst
schwankend und unsicher seien *), dass in der relativ verbundenen
Anstalt der Kranke in allen Stadien seines Irreseins von demselben
Arzte beobachtet und seine Krankheit bis an ihr Ende verfolgt werden
könne, dass dabei die Aufnahmen, ungestört durch Verhandlungen über
die Wahl der passenden Anstalt, die sich sonst auf die Prognose stützen
muss, beschleunigt werden, dass solche Anstalten einen leichten
Ueberblick über die ganze Irrenanzahl eines Landes oder einer Pro-
vinz gewähren, dass die für unheilbar Gehaltenen nöthigenfalls sehr
leicht wieder in die Heilanstalt zurückversetzt werden können, wäh-
rend dagegen die Versetzung der Kranken aus der Heil- in die Pfleg-
Anstalt nicht nur umständlich und kostspielig, sondern auch für den
Kranken und seine Angehörigen sehr hart und niederschlagend, und
eine Rückversetzung in die Heilanstalt beim etwaigen Wiedereintritt
günstigerer Aussichten kaum mehr thunlich sei.

Allein die Pflegeanstalten dürfen keine Orte sein, denen das
„Lasciate ogni speranza“ an die Stirne geschrieben ist; sie müssen,
wiewohl durchaus für veraltete, chronische Fälle eingerichtet, doch
in der Persönlichkeit des Arztes und in ihren äusseren Verhältnissen
immer noch die Mittel bieten, welche die in einzelnen, seltenen
Fällen wiederkehrende Hoffnung auf Genesung erfordert. In der That
genesen auch in den Pflegeanstalten von Zeit zu Zeit noch einzelne
Kranke, und zwar ohne Démenti für die Heilanstalt, welche mit der
Uebergabe solcher einzelner Kranken nur sagen wollte, dass eben
sie dem Kranken nichts mehr zu gewähren vermöge, wohl aber viel-

*) Einzelne Aerzte behaupten, von den Geisteskranken wisse nur Gott, ob
sie heilbar oder unheilbar seien. S. das Capitel von der Prognose. Für die grosse
Mehrzahl
der Fälle ist die Entscheidung über Heilbarkeit oder Unheilbarkeit
für einen geübten Irrenarzt nach mehrmonatlicher Beobachtung nicht nur möglich,
sondern sogar leicht, und ebenso sicher, als das prognostische Urtheil über jede
andere Krankheit.
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[386/0400] Gründe für und gegen Trennung Es ist, wo Neubauten errichtet werden sollen, ohne Zweifel das minder kostspielige, indem, wie bemerkt, hier manche Gebäude und Einrichtungen für beide Anstalten gemeinsam sind, also nur einmal da zu sein brauchen, indem viele Kranke unter Einer Verwaltung vereinigt sind, und weniger Personal an Aerzten und Beamten erfordert wird, indem ferner eine solche Anstalt sich eher durch ihre eigene Production und Arbeit, welche hauptsächlich von den Bewohnern der Pflegeanstalt geschieht, also mit geringerem Staatszuschuss erhalten kann. Als weitere Gründe für solche Vereinigung werden angeführt, dass die Bestimmungen über Heilbarkeit oder Unheilbarkeit höchst schwankend und unsicher seien *), dass in der relativ verbundenen Anstalt der Kranke in allen Stadien seines Irreseins von demselben Arzte beobachtet und seine Krankheit bis an ihr Ende verfolgt werden könne, dass dabei die Aufnahmen, ungestört durch Verhandlungen über die Wahl der passenden Anstalt, die sich sonst auf die Prognose stützen muss, beschleunigt werden, dass solche Anstalten einen leichten Ueberblick über die ganze Irrenanzahl eines Landes oder einer Pro- vinz gewähren, dass die für unheilbar Gehaltenen nöthigenfalls sehr leicht wieder in die Heilanstalt zurückversetzt werden können, wäh- rend dagegen die Versetzung der Kranken aus der Heil- in die Pfleg- Anstalt nicht nur umständlich und kostspielig, sondern auch für den Kranken und seine Angehörigen sehr hart und niederschlagend, und eine Rückversetzung in die Heilanstalt beim etwaigen Wiedereintritt günstigerer Aussichten kaum mehr thunlich sei. Allein die Pflegeanstalten dürfen keine Orte sein, denen das „Lasciate ogni speranza“ an die Stirne geschrieben ist; sie müssen, wiewohl durchaus für veraltete, chronische Fälle eingerichtet, doch in der Persönlichkeit des Arztes und in ihren äusseren Verhältnissen immer noch die Mittel bieten, welche die in einzelnen, seltenen Fällen wiederkehrende Hoffnung auf Genesung erfordert. In der That genesen auch in den Pflegeanstalten von Zeit zu Zeit noch einzelne Kranke, und zwar ohne Démenti für die Heilanstalt, welche mit der Uebergabe solcher einzelner Kranken nur sagen wollte, dass eben sie dem Kranken nichts mehr zu gewähren vermöge, wohl aber viel- *) Einzelne Aerzte behaupten, von den Geisteskranken wisse nur Gott, ob sie heilbar oder unheilbar seien. S. das Capitel von der Prognose. Für die grosse Mehrzahl der Fälle ist die Entscheidung über Heilbarkeit oder Unheilbarkeit für einen geübten Irrenarzt nach mehrmonatlicher Beobachtung nicht nur möglich, sondern sogar leicht, und ebenso sicher, als das prognostische Urtheil über jede andere Krankheit.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 386. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/400>, abgerufen am 29.04.2024.