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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Traurige Verstimmung.
Zustand unbestimmter Art, eine in ihrer Undeutlichkeit höchst quä-
lende Gefühlsbelästigung; die neu herauftretenden krankhaften Vor-
stellungen und Triebe erzeugen eine Entzweiung der Seele, das Ge-
fühl des Losseins der Persönlichkeit und einer zu erwartenden Ueber-
wältigung des Ich. Der psychische Schmerz erscheint in einer der
bekannten Formen der Unruhe, Angst, Traurigkeit und bringt alle die
oben (§. 18.) erwähnten Folgen einer durchaus veränderten Reaction
gegen die Aussenwelt und einer Störung der motorischen Seelenthä-
tigkeit mit sich. Perversitäten der natürlichen Gefühle, Abneigung
und Hass gegen das früher Geliebte, äussere Gefühllosigkeit, oder
eine sich krankhaft an einen Gegenstand anklammernde Zärtlichkeit,
doch ohne die Tiefe der ruhigen Empfindung und ohne die rechte
Sorgfalt, oft auch schnell und capriciös mit Widerwillen abwechselnd,
sind hier gewöhnliche Erscheinungen. Die gesteigerte Empfindlichkeit
bezieht Alles auf sich, weil sie sich wirklich von Allem unangenehm
berührt fühlt, und in der düstern Beschattung aller An- und Aus-
sichten legt der Mensch alles Gegenwärtige übel aus und sieht in
allem Zukünftigen nur Schlimmes. Misstrauen und Argwohn werden
durch das Gefühl verminderter Widerstandsfähigkeit unterhalten und
durch körperliche Angstempfindungen immer neu geweckt; Alles er-
scheint dem Kranken anders, weil er sich selbst zu jedem psychi-
schen Eindrucke anders verhält, weil er gänzlich anders empfindet,
und er hat die grösste Neigung, seinen Zustand bald einem directen
Einflusse der Aussenwelt zuzuschreiben, sich verfolgt, beeinträchtigt,
bezaubert, von schlimmen, geheimen Einflüssen beherrscht zu glauben,
bald in seinem früheren Leben die Ursachen davon zu suchen und
sich allerlei schwerer Verbrechen, Verworfenheiten und Unthaten an-
zuklagen, deren nothwendige Consequenz sein jetziges Verhalten sei.

Hier kommen nun die mannigfaltigsten Modificationen dieser Grundzustände
vor, bald ein völliges Insichversunkensein, bald laute Verzweiflung, zuweilen
Tücke, selten schmelzende Weichheit, bald anhaltende Selbstquälerei, bald stete
Beziehung der Unzufriedenheit auf die Aussenwelt, bald Lebensüberdruss und
ruhiger Entschluss zum Selbstmord, bald Furcht vor dem Tode, vor Höllenstrafen
und dergl. Sehr häufig hat der Kranke Anfangs das Gefühl des beginnenden Irre-
seins, zuweilen fleht er um Hülfe, und wir selbst haben Kranke iu den Anfangs-
stadien aus weiter Entfernung freiwillig der Irrenanstalt zueilen gesehen.

Die genannten Zustände geben die Grundlage der verschiedenen Formen der
Melancholie; doch kommen sie auch in andern Formen (z. B. der Verrücktheit,
der Tobsucht) vor, und man kann sagen, dass sich die Mehrzahl der Irren höchst
unbehaglich, ja unglücklich fühlt, woher wohl die alte Benennung Morositates
(Sauvages) für alle Geisteskrankheiten rühren mochte. Jenen Zuständen entsprechen
als analoge des gesunden Lebens alle deprimirten Stimmungen und Affecte, Nieder-

Traurige Verstimmung.
Zustand unbestimmter Art, eine in ihrer Undeutlichkeit höchst quä-
lende Gefühlsbelästigung; die neu herauftretenden krankhaften Vor-
stellungen und Triebe erzeugen eine Entzweiung der Seele, das Ge-
fühl des Losseins der Persönlichkeit und einer zu erwartenden Ueber-
wältigung des Ich. Der psychische Schmerz erscheint in einer der
bekannten Formen der Unruhe, Angst, Traurigkeit und bringt alle die
oben (§. 18.) erwähnten Folgen einer durchaus veränderten Reaction
gegen die Aussenwelt und einer Störung der motorischen Seelenthä-
tigkeit mit sich. Perversitäten der natürlichen Gefühle, Abneigung
und Hass gegen das früher Geliebte, äussere Gefühllosigkeit, oder
eine sich krankhaft an einen Gegenstand anklammernde Zärtlichkeit,
doch ohne die Tiefe der ruhigen Empfindung und ohne die rechte
Sorgfalt, oft auch schnell und capriciös mit Widerwillen abwechselnd,
sind hier gewöhnliche Erscheinungen. Die gesteigerte Empfindlichkeit
bezieht Alles auf sich, weil sie sich wirklich von Allem unangenehm
berührt fühlt, und in der düstern Beschattung aller An- und Aus-
sichten legt der Mensch alles Gegenwärtige übel aus und sieht in
allem Zukünftigen nur Schlimmes. Misstrauen und Argwohn werden
durch das Gefühl verminderter Widerstandsfähigkeit unterhalten und
durch körperliche Angstempfindungen immer neu geweckt; Alles er-
scheint dem Kranken anders, weil er sich selbst zu jedem psychi-
schen Eindrucke anders verhält, weil er gänzlich anders empfindet,
und er hat die grösste Neigung, seinen Zustand bald einem directen
Einflusse der Aussenwelt zuzuschreiben, sich verfolgt, beeinträchtigt,
bezaubert, von schlimmen, geheimen Einflüssen beherrscht zu glauben,
bald in seinem früheren Leben die Ursachen davon zu suchen und
sich allerlei schwerer Verbrechen, Verworfenheiten und Unthaten an-
zuklagen, deren nothwendige Consequenz sein jetziges Verhalten sei.

Hier kommen nun die mannigfaltigsten Modificationen dieser Grundzustände
vor, bald ein völliges Insichversunkensein, bald laute Verzweiflung, zuweilen
Tücke, selten schmelzende Weichheit, bald anhaltende Selbstquälerei, bald stete
Beziehung der Unzufriedenheit auf die Aussenwelt, bald Lebensüberdruss und
ruhiger Entschluss zum Selbstmord, bald Furcht vor dem Tode, vor Höllenstrafen
und dergl. Sehr häufig hat der Kranke Anfangs das Gefühl des beginnenden Irre-
seins, zuweilen fleht er um Hülfe, und wir selbst haben Kranke iu den Anfangs-
stadien aus weiter Entfernung freiwillig der Irrenanstalt zueilen gesehen.

Die genannten Zustände geben die Grundlage der verschiedenen Formen der
Melancholie; doch kommen sie auch in andern Formen (z. B. der Verrücktheit,
der Tobsucht) vor, und man kann sagen, dass sich die Mehrzahl der Irren höchst
unbehaglich, ja unglücklich fühlt, woher wohl die alte Benennung Morositates
(Sauvages) für alle Geisteskrankheiten rühren mochte. Jenen Zuständen entsprechen
als analoge des gesunden Lebens alle deprimirten Stimmungen und Affecte, Nieder-

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[53/0067] Traurige Verstimmung. Zustand unbestimmter Art, eine in ihrer Undeutlichkeit höchst quä- lende Gefühlsbelästigung; die neu herauftretenden krankhaften Vor- stellungen und Triebe erzeugen eine Entzweiung der Seele, das Ge- fühl des Losseins der Persönlichkeit und einer zu erwartenden Ueber- wältigung des Ich. Der psychische Schmerz erscheint in einer der bekannten Formen der Unruhe, Angst, Traurigkeit und bringt alle die oben (§. 18.) erwähnten Folgen einer durchaus veränderten Reaction gegen die Aussenwelt und einer Störung der motorischen Seelenthä- tigkeit mit sich. Perversitäten der natürlichen Gefühle, Abneigung und Hass gegen das früher Geliebte, äussere Gefühllosigkeit, oder eine sich krankhaft an einen Gegenstand anklammernde Zärtlichkeit, doch ohne die Tiefe der ruhigen Empfindung und ohne die rechte Sorgfalt, oft auch schnell und capriciös mit Widerwillen abwechselnd, sind hier gewöhnliche Erscheinungen. Die gesteigerte Empfindlichkeit bezieht Alles auf sich, weil sie sich wirklich von Allem unangenehm berührt fühlt, und in der düstern Beschattung aller An- und Aus- sichten legt der Mensch alles Gegenwärtige übel aus und sieht in allem Zukünftigen nur Schlimmes. Misstrauen und Argwohn werden durch das Gefühl verminderter Widerstandsfähigkeit unterhalten und durch körperliche Angstempfindungen immer neu geweckt; Alles er- scheint dem Kranken anders, weil er sich selbst zu jedem psychi- schen Eindrucke anders verhält, weil er gänzlich anders empfindet, und er hat die grösste Neigung, seinen Zustand bald einem directen Einflusse der Aussenwelt zuzuschreiben, sich verfolgt, beeinträchtigt, bezaubert, von schlimmen, geheimen Einflüssen beherrscht zu glauben, bald in seinem früheren Leben die Ursachen davon zu suchen und sich allerlei schwerer Verbrechen, Verworfenheiten und Unthaten an- zuklagen, deren nothwendige Consequenz sein jetziges Verhalten sei. Hier kommen nun die mannigfaltigsten Modificationen dieser Grundzustände vor, bald ein völliges Insichversunkensein, bald laute Verzweiflung, zuweilen Tücke, selten schmelzende Weichheit, bald anhaltende Selbstquälerei, bald stete Beziehung der Unzufriedenheit auf die Aussenwelt, bald Lebensüberdruss und ruhiger Entschluss zum Selbstmord, bald Furcht vor dem Tode, vor Höllenstrafen und dergl. Sehr häufig hat der Kranke Anfangs das Gefühl des beginnenden Irre- seins, zuweilen fleht er um Hülfe, und wir selbst haben Kranke iu den Anfangs- stadien aus weiter Entfernung freiwillig der Irrenanstalt zueilen gesehen. Die genannten Zustände geben die Grundlage der verschiedenen Formen der Melancholie; doch kommen sie auch in andern Formen (z. B. der Verrücktheit, der Tobsucht) vor, und man kann sagen, dass sich die Mehrzahl der Irren höchst unbehaglich, ja unglücklich fühlt, woher wohl die alte Benennung Morositates (Sauvages) für alle Geisteskrankheiten rühren mochte. Jenen Zuständen entsprechen als analoge des gesunden Lebens alle deprimirten Stimmungen und Affecte, Nieder-

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/67>, abgerufen am 28.04.2024.