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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Krankhafte Triebe.
konnte, und zwar in der grössten Ruhe und Unbefangenheit, um doch Glas zur
Verstopfung von Mauslöchern zu bekommen; ein Anderer, um die Gelegenheit zu
benützen, einmal nach Herzenslust Kronenthaler schlagen zu dürfen. Ein Anderer
zerriss in Ruhe alle seine Hemden, um Charpie für Feldhospitäler zu sammeln;
ein Anderer hob den Ofen ab, um seine Pfeife anzuzünden, und setzte ihn dann
in aller Gemächlichkeit wieder auf etc. Einer hatte eine Menge Stühle zusammen-
geschlagen, und auf meine Frage, wie er denn zu solch unsinnigem Zeug käme,
erwiederte er, indem er ruhig an der Fortsetzung dieses Geschäfts fortfahren
wollte, ohne aufzusehen, die Philosophie muss den Sieg über die Aesthetik er-
langen." -- In solchen Fällen muss man indessen den Kranken, die mit der An-
gabe ihrer wirklichen Motive oft äusserst zurückhaltend sind, nicht zu sehr
vertrauen, und manches solche Beispiel erinnert an die Scene in Shakespeare, wo
der durch Fragen in Verlegenheit gesetzte Fallstaff immer bei der Antwort bleibt
"in Steifleinen."

Bei den verbrecherischen Handlungen der Irren ist es der genauesten Be-
achtung werth, ob der Kranke auch schon im gesunden Leben einen ähnlichen
Hang (z. B. zum Stehlen) gezeigt hat, der nur jetzt, bei aufgehobener Besonnen-
heit, unverhüllt ans Licht tritt, oder ob die Lust dazu, erst während des Irreseins
entstanden und mit der Genesung dann auch wieder verschwindend, wirklich aus
krankhaften Gemüthsbewegungen und Wahnideen hervorging. (S. Jakobi über
Stehlsucht in Jakobi und Nasses Zeitschrift. 1837. 1. Heft. p. 179.)

Aus der Aeusserung solcher Neigungen, aus dem freien Hervortreten von
Lüsten, die sonst verhüllt werden, aus einzelnen krankhaften Trieben ist sehr
Vieles von der Bizarrerie herzuleiten, die das Benehmen der meisten Geisteskranken
zeigt. Jene haben ihre Analogieen im gesunden Leben theils in jenen sonderbaren
Gewohnheiten und grillenhaften Handlungen, die zuweilen sogar als curiose An-
hängsel an grosse, innerlich stets lebhaft beschäftigte Intelligenzen vorkommen,
(z. B. den Stoff zu manchen Gelehrten-Anecdoten abgeben) theils aber in den
Willensrichtungen und Handlungsweisen der Leidenschaft und des Affects. Hier
ist im Einzelnen Stoff zu unzähligen Vergleichungen und man findet bei den
Dichtern, welche die affectvollen Zustände des Subjects zum Gegenstande haben,
eine Menge beispielsweiser Analogieen. Wenn der Schwermüthige z. B. den Trieb
hat, hinaus, fort zu wollen, im Freien herumzuschweifen, weil es ihm daheim zu
enge ist und er von äusserer Unruhe und Unstetheit Linderung seines inneren
Schmerzzustandes erwartet, so kommt dasselbe beim reellen psychischen Schmerze
vor, wo es das Individuum hinaus ins Freie oder gar in ferne Länder, in die
Welt, ins Leben hinaustreibt, um in äusserer Unruhe und Umherschweifen die
innere Ruhe wieder herzustellen. Eichendorff hat diese Stimmung in einem be-
kannten Liede gut ausgedrückt (in dem Verse: Ich möcht' als Spielmann reisen etc.
Ich möcht' als Reiter fliegen etc.); andere Beispiele könnte man in dem Wander-
triebe moderner schmerzzerissener Touristen finden.


Krankhafte Triebe.
konnte, und zwar in der grössten Ruhe und Unbefangenheit, um doch Glas zur
Verstopfung von Mauslöchern zu bekommen; ein Anderer, um die Gelegenheit zu
benützen, einmal nach Herzenslust Kronenthaler schlagen zu dürfen. Ein Anderer
zerriss in Ruhe alle seine Hemden, um Charpie für Feldhospitäler zu sammeln;
ein Anderer hob den Ofen ab, um seine Pfeife anzuzünden, und setzte ihn dann
in aller Gemächlichkeit wieder auf etc. Einer hatte eine Menge Stühle zusammen-
geschlagen, und auf meine Frage, wie er denn zu solch unsinnigem Zeug käme,
erwiederte er, indem er ruhig an der Fortsetzung dieses Geschäfts fortfahren
wollte, ohne aufzusehen, die Philosophie muss den Sieg über die Aesthetik er-
langen.“ — In solchen Fällen muss man indessen den Kranken, die mit der An-
gabe ihrer wirklichen Motive oft äusserst zurückhaltend sind, nicht zu sehr
vertrauen, und manches solche Beispiel erinnert an die Scene in Shakespeare, wo
der durch Fragen in Verlegenheit gesetzte Fallstaff immer bei der Antwort bleibt
„in Steifleinen.“

Bei den verbrecherischen Handlungen der Irren ist es der genauesten Be-
achtung werth, ob der Kranke auch schon im gesunden Leben einen ähnlichen
Hang (z. B. zum Stehlen) gezeigt hat, der nur jetzt, bei aufgehobener Besonnen-
heit, unverhüllt ans Licht tritt, oder ob die Lust dazu, erst während des Irreseins
entstanden und mit der Genesung dann auch wieder verschwindend, wirklich aus
krankhaften Gemüthsbewegungen und Wahnideen hervorging. (S. Jakobi über
Stehlsucht in Jakobi und Nasses Zeitschrift. 1837. 1. Heft. p. 179.)

Aus der Aeusserung solcher Neigungen, aus dem freien Hervortreten von
Lüsten, die sonst verhüllt werden, aus einzelnen krankhaften Trieben ist sehr
Vieles von der Bizarrerie herzuleiten, die das Benehmen der meisten Geisteskranken
zeigt. Jene haben ihre Analogieen im gesunden Leben theils in jenen sonderbaren
Gewohnheiten und grillenhaften Handlungen, die zuweilen sogar als curiose An-
hängsel an grosse, innerlich stets lebhaft beschäftigte Intelligenzen vorkommen,
(z. B. den Stoff zu manchen Gelehrten-Anecdoten abgeben) theils aber in den
Willensrichtungen und Handlungsweisen der Leidenschaft und des Affects. Hier
ist im Einzelnen Stoff zu unzähligen Vergleichungen und man findet bei den
Dichtern, welche die affectvollen Zustände des Subjects zum Gegenstande haben,
eine Menge beispielsweiser Analogieen. Wenn der Schwermüthige z. B. den Trieb
hat, hinaus, fort zu wollen, im Freien herumzuschweifen, weil es ihm daheim zu
enge ist und er von äusserer Unruhe und Unstetheit Linderung seines inneren
Schmerzzustandes erwartet, so kommt dasselbe beim reellen psychischen Schmerze
vor, wo es das Individuum hinaus ins Freie oder gar in ferne Länder, in die
Welt, ins Leben hinaustreibt, um in äusserer Unruhe und Umherschweifen die
innere Ruhe wieder herzustellen. Eichendorff hat diese Stimmung in einem be-
kannten Liede gut ausgedrückt (in dem Verse: Ich möcht’ als Spielmann reisen etc.
Ich möcht’ als Reiter fliegen etc.); andere Beispiele könnte man in dem Wander-
triebe moderner schmerzzerissener Touristen finden.


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[63/0077] Krankhafte Triebe. konnte, und zwar in der grössten Ruhe und Unbefangenheit, um doch Glas zur Verstopfung von Mauslöchern zu bekommen; ein Anderer, um die Gelegenheit zu benützen, einmal nach Herzenslust Kronenthaler schlagen zu dürfen. Ein Anderer zerriss in Ruhe alle seine Hemden, um Charpie für Feldhospitäler zu sammeln; ein Anderer hob den Ofen ab, um seine Pfeife anzuzünden, und setzte ihn dann in aller Gemächlichkeit wieder auf etc. Einer hatte eine Menge Stühle zusammen- geschlagen, und auf meine Frage, wie er denn zu solch unsinnigem Zeug käme, erwiederte er, indem er ruhig an der Fortsetzung dieses Geschäfts fortfahren wollte, ohne aufzusehen, die Philosophie muss den Sieg über die Aesthetik er- langen.“ — In solchen Fällen muss man indessen den Kranken, die mit der An- gabe ihrer wirklichen Motive oft äusserst zurückhaltend sind, nicht zu sehr vertrauen, und manches solche Beispiel erinnert an die Scene in Shakespeare, wo der durch Fragen in Verlegenheit gesetzte Fallstaff immer bei der Antwort bleibt „in Steifleinen.“ Bei den verbrecherischen Handlungen der Irren ist es der genauesten Be- achtung werth, ob der Kranke auch schon im gesunden Leben einen ähnlichen Hang (z. B. zum Stehlen) gezeigt hat, der nur jetzt, bei aufgehobener Besonnen- heit, unverhüllt ans Licht tritt, oder ob die Lust dazu, erst während des Irreseins entstanden und mit der Genesung dann auch wieder verschwindend, wirklich aus krankhaften Gemüthsbewegungen und Wahnideen hervorging. (S. Jakobi über Stehlsucht in Jakobi und Nasses Zeitschrift. 1837. 1. Heft. p. 179.) Aus der Aeusserung solcher Neigungen, aus dem freien Hervortreten von Lüsten, die sonst verhüllt werden, aus einzelnen krankhaften Trieben ist sehr Vieles von der Bizarrerie herzuleiten, die das Benehmen der meisten Geisteskranken zeigt. Jene haben ihre Analogieen im gesunden Leben theils in jenen sonderbaren Gewohnheiten und grillenhaften Handlungen, die zuweilen sogar als curiose An- hängsel an grosse, innerlich stets lebhaft beschäftigte Intelligenzen vorkommen, (z. B. den Stoff zu manchen Gelehrten-Anecdoten abgeben) theils aber in den Willensrichtungen und Handlungsweisen der Leidenschaft und des Affects. Hier ist im Einzelnen Stoff zu unzähligen Vergleichungen und man findet bei den Dichtern, welche die affectvollen Zustände des Subjects zum Gegenstande haben, eine Menge beispielsweiser Analogieen. Wenn der Schwermüthige z. B. den Trieb hat, hinaus, fort zu wollen, im Freien herumzuschweifen, weil es ihm daheim zu enge ist und er von äusserer Unruhe und Unstetheit Linderung seines inneren Schmerzzustandes erwartet, so kommt dasselbe beim reellen psychischen Schmerze vor, wo es das Individuum hinaus ins Freie oder gar in ferne Länder, in die Welt, ins Leben hinaustreibt, um in äusserer Unruhe und Umherschweifen die innere Ruhe wieder herzustellen. Eichendorff hat diese Stimmung in einem be- kannten Liede gut ausgedrückt (in dem Verse: Ich möcht’ als Spielmann reisen etc. Ich möcht’ als Reiter fliegen etc.); andere Beispiele könnte man in dem Wander- triebe moderner schmerzzerissener Touristen finden.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/77>, abgerufen am 15.10.2024.