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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Beispiele von Alterationen des Gemeingefühls.
sprungs zu sein, und die Grundlage dieses Wahns mag auf dem ge-
bieterischen Auftreten gewisser Triebe und Eigenthümlichkeiten ein-
zelner Thiergattungen, z. B. der Grausamkeit und Wildheit des Wolfs,
beruhen; immer aber wird auch hier eine tiefe Abweichung von dem
normalen leiblichen Gemeingefühle zur völligen Ausbildung der Wahn-
Metamorphose erforderlich sein.

Leuret (Fragm. psychol. sur la folie. Par. 1834. p. 101) hat einige ältere
Beispiele dieser sogenannten Lycanthropie zusammengestellt und mit Fällen aus
der neuesten Zeit, wo Geisteskranke in den Wäldern herumirrten und in wildem
Mordtriebe Kinder zerrissen und verzehrten, auf interessante Weise zusammen-
gestellt. Wier erzählt noch aus dem J. 1541 das Beispiel eines Mannes aus
Padua, der sich in einen Wolf verwandelt glaubte und auf dem Felde die Vor-
übergehenden anfiel und tödtete. "Ich bin wirklich ein Wolf," sagte er, "und
dass meine Haut nicht der eines Wolfs gleicht, kommt nur daher, dass sie um-
gekehrt ist und die Haare nach innen stehen." Um sich hievon zu überzeugen
machte man allenthalben Incisionen und schnitt ihm Beine und Arme ab, so dass
er an seinen Wunden starb.

Die Beispiele, wo sich Geisteskranke für todt hielten und ihren Leib nicht
als den eigenen anerkannten, sind zahlreich. Esquirol erzählt von einer Frau,
welche glaubte, ihren Körper habe der Teufel geholt: die Hautfläche war voll-
kommen unempfindlich. Ebenso in folgendem Falle von Foville: Ein Soldat hält
sich für todt seit der Schlacht bei Austerlitz, in der er schwer verwundet wurde.
Fragt man nach seinem Befinden, so antwortet er: Sie fragen, wie es dem Vater
Lambert gehe; aber es gibt keinen Vater Lambert mehr, eine Kanonenkugel bei
Austerlitz hat ihn mitgenommen. Was Sie hier sehen, ist nicht er, das ist
bloss eine nachgemachte, schlechte Maschine; machen Sie doch eine andere."
Wenn er von sich selbst spricht, sagt er niemals ich, sondern immer das.
Die Haut ist unempfindlich und es kamen mehrmals Anfälle mehrtägiger Unbeweg-
lichkeit und Empfindungslosigkeit vor.

Ein junger Epileptischer, der auch zahlreiche Hallucinationen des Geruchs und
Geschmacks hat, fühlt manchmal eine so ausserordentliche Schwere des ganzen
Körpers, das er sich kaum aufrichten kann, anderemale eine solche Leichtigkeit,
als ob er sich vom Boden entfernte und aufflöge; mitunter scheinen ihm sein
Leib und seine Glieder so enorm vergrössert, dass es ihm unmöglich dünkt,
durch eine Thüre durchzukommen. *)

Auch für solche Zustände gibt es Analoga in den acuten Krankheiten. Ein
befreundeter Arzt hat uns mehrmals erzählt, wie er, schon bei ganz leichten
fieberhaften Affectionen, jedesmal die Empfindung einer bedeutenden Vergrösserung
aller Glieder habe.

Ein Reconvalescent von einem Fieber glaubte aus zwei Individuen zu be-
stehen, deren eines im Bette liege, während das andere herumgehe; ungeachtet
er keinen Appetit hatte, ass er doch viel, weil er zwei Leiber ernähren müsse.
(Leuret l. c. p. 95.)

Bei Kranken mit sensitiver Lähmung einer Körperhälfte wird zuweilen der
Wahn beobachtet, es liege eine andere Person oder gar eine Leiche neben ihnen

*) Bottex, essai sur les hallucinations. Lyon 1836. p. 58, 61.

Beispiele von Alterationen des Gemeingefühls.
sprungs zu sein, und die Grundlage dieses Wahns mag auf dem ge-
bieterischen Auftreten gewisser Triebe und Eigenthümlichkeiten ein-
zelner Thiergattungen, z. B. der Grausamkeit und Wildheit des Wolfs,
beruhen; immer aber wird auch hier eine tiefe Abweichung von dem
normalen leiblichen Gemeingefühle zur völligen Ausbildung der Wahn-
Metamorphose erforderlich sein.

Leuret (Fragm. psychol. sur la folie. Par. 1834. p. 101) hat einige ältere
Beispiele dieser sogenannten Lycanthropie zusammengestellt und mit Fällen aus
der neuesten Zeit, wo Geisteskranke in den Wäldern herumirrten und in wildem
Mordtriebe Kinder zerrissen und verzehrten, auf interessante Weise zusammen-
gestellt. Wier erzählt noch aus dem J. 1541 das Beispiel eines Mannes aus
Padua, der sich in einen Wolf verwandelt glaubte und auf dem Felde die Vor-
übergehenden anfiel und tödtete. „Ich bin wirklich ein Wolf,“ sagte er, „und
dass meine Haut nicht der eines Wolfs gleicht, kommt nur daher, dass sie um-
gekehrt ist und die Haare nach innen stehen.“ Um sich hievon zu überzeugen
machte man allenthalben Incisionen und schnitt ihm Beine und Arme ab, so dass
er an seinen Wunden starb.

Die Beispiele, wo sich Geisteskranke für todt hielten und ihren Leib nicht
als den eigenen anerkannten, sind zahlreich. Esquirol erzählt von einer Frau,
welche glaubte, ihren Körper habe der Teufel geholt: die Hautfläche war voll-
kommen unempfindlich. Ebenso in folgendem Falle von Foville: Ein Soldat hält
sich für todt seit der Schlacht bei Austerlitz, in der er schwer verwundet wurde.
Fragt man nach seinem Befinden, so antwortet er: Sie fragen, wie es dem Vater
Lambert gehe; aber es gibt keinen Vater Lambert mehr, eine Kanonenkugel bei
Austerlitz hat ihn mitgenommen. Was Sie hier sehen, ist nicht er, das ist
bloss eine nachgemachte, schlechte Maschine; machen Sie doch eine andere.“
Wenn er von sich selbst spricht, sagt er niemals ich, sondern immer das.
Die Haut ist unempfindlich und es kamen mehrmals Anfälle mehrtägiger Unbeweg-
lichkeit und Empfindungslosigkeit vor.

Ein junger Epileptischer, der auch zahlreiche Hallucinationen des Geruchs und
Geschmacks hat, fühlt manchmal eine so ausserordentliche Schwere des ganzen
Körpers, das er sich kaum aufrichten kann, anderemale eine solche Leichtigkeit,
als ob er sich vom Boden entfernte und aufflöge; mitunter scheinen ihm sein
Leib und seine Glieder so enorm vergrössert, dass es ihm unmöglich dünkt,
durch eine Thüre durchzukommen. *)

Auch für solche Zustände gibt es Analoga in den acuten Krankheiten. Ein
befreundeter Arzt hat uns mehrmals erzählt, wie er, schon bei ganz leichten
fieberhaften Affectionen, jedesmal die Empfindung einer bedeutenden Vergrösserung
aller Glieder habe.

Ein Reconvalescent von einem Fieber glaubte aus zwei Individuen zu be-
stehen, deren eines im Bette liege, während das andere herumgehe; ungeachtet
er keinen Appetit hatte, ass er doch viel, weil er zwei Leiber ernähren müsse.
(Leuret l. c. p. 95.)

Bei Kranken mit sensitiver Lähmung einer Körperhälfte wird zuweilen der
Wahn beobachtet, es liege eine andere Person oder gar eine Leiche neben ihnen

*) Bottex, éssai sur les hallucinations. Lyon 1836. p. 58, 61.
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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/80>, abgerufen am 28.04.2024.