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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822.

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I. neuhochdeutsche consonanten. linguales.
werth u. a. m. Vielleicht dachte man den in gemeiner
aussprache dem d sich genäherten laut des t hervorzu-
heben. wenn man hinter ihm ein h einschaltete. Die
wahrscheinlichere ursache dieses tadelhaften th. ist aber,
daß man ein dem wurzelvoc. nachgesetztes dehnungs-h
misbräuchlich ihm vorsetzte, also tuhn, tahl in thun,
thal wandelte; in büchern des 16. 17. jahrh. ist ganz auf
gleiche weise jhar, jheling, jhenen st. jahr, jehling,
jehnen (jenen) ghen st. gehn, khun st kühn, mhü st. mühe,
rhu, rhum st. ruhe, ruhm entsprungen; mit recht hat
man dergl. jh. gh. kh. mh. rh später verworfen die
einzelnen th unschicklich behalten. Auf unterscheidun-
gen wie haut (pileus) hauth (pascuum) ton (sonus) thon
(argilla), welche im organismus der lautverhältnisse
unserer sprache unbegründet scheinen, halte ich nichts;
müßen wir doch thor (stultus) von thor (porta) un-
unterschieden laßen (mittelh. tore und tor). -- Die
s. 408. unter 1. nachgewiesene anomalie dauert fort
und vermehrt sich dadurch, daß d und tt wechseln,
letzteres auch selbst den sing. praet. einnimmt, vgl.
schneiden, schnitt, schnitten, ebenso leiden und sieden,
sott, sotten, wogegen meiden:mied, mieden bekommt,
In streiten, reiten, gleiten, bieten ist zwar kein wech-
sel der ten. und med. möglich, aber die unnatürliche
gem. der ten. tritt bei den drei erstgenannten verbis,
nicht bei dem letzten ein. -- In den fällen s. 408. 2. 3.
bleibt jetzt immer die ten. ohne übergang in med., die
part. desto ist unverstanden fortgeführte formverhärtung.-
Die beiden stufen des zischlauts bestehen und zwar z.
unverändert, wie im mittelh. nur daß in- und ausl.
vor kurzem vocal jedesmahl gem. tz. geschrieben wird:
schatz, sitz, schätze, sitzen, setzte. Mit dem ß hat
sich manches nachtheilige zugetragen: 1) es wird ß. (ß)
geschrieben. welches eigentlich die mittelh. gem. ß
ausdrückt, aber auch fürs einf. ß gilt, z. b. fraß (voca-
vit) maß (modus) groß (magnus) iß (ede) daß (quod)
waßer (aqua) laßen (sinere) eßen (edere) stoßen (trudere)
weiß (albus) etc. Man beachte den unorganischen wech-
sel langer und kurzer vocale in denselben wörtern: eßen,
aß, meßen, maß Seit ß. ale wirkliche gemin. erschien,
nicht mehr als bloße cons. verbindung oder assibilation
(was es ursprünglich doch war) legte man ihm die wir-
kung aller übrigen gem. nämlich vocalverkürzung bei
und wandelte laßen, in laßen, goß (fudit) in goß, muoß,
mueßen in muß, müßen, ja nach einiger aussprachs

I. neuhochdeutſche conſonanten. linguales.
werth u. a. m. Vielleicht dachte man den in gemeiner
ausſprache dem d ſich genäherten laut des t hervorzu-
heben. wenn man hinter ihm ein h einſchaltete. Die
wahrſcheinlichere urſache dieſes tadelhaften th. iſt aber,
daß man ein dem wurzelvoc. nachgeſetztes dehnungs-h
misbräuchlich ihm vorſetzte, alſo tuhn, tahl in thun,
thal wandelte; in büchern des 16. 17. jahrh. iſt ganz auf
gleiche weiſe jhar, jheling, jhenen ſt. jahr, jehling,
jehnen (jenen) ghen ſt. gehn, khun ſt kühn, mhü ſt. mühe,
rhu, rhum ſt. ruhe, ruhm entſprungen; mit recht hat
man dergl. jh. gh. kh. mh. rh ſpäter verworfen die
einzelnen th unſchicklich behalten. Auf unterſcheidun-
gen wie hût (pileus) hûth (paſcuum) tôn (ſonus) thôn
(argilla), welche im organiſmus der lautverhältniſſe
unſerer ſprache unbegründet ſcheinen, halte ich nichts;
müßen wir doch thôr (ſtultus) von thôr (porta) un-
unterſchieden laßen (mittelh. tôre und tor). — Die
ſ. 408. unter 1. nachgewieſene anomalie dauert fort
und vermehrt ſich dadurch, daß d und tt wechſeln,
letzteres auch ſelbſt den ſing. praet. einnimmt, vgl.
ſchneiden, ſchnitt, ſchnitten, ebenſo leiden und ſieden,
ſott, ſotten, wogegen meiden:mied, mieden bekommt,
In ſtreiten, reiten, gleiten, bieten iſt zwar kein wech-
ſel der ten. und med. möglich, aber die unnatürliche
gem. der ten. tritt bei den drei erſtgenannten verbis,
nicht bei dem letzten ein. — In den fällen ſ. 408. 2. 3.
bleibt jetzt immer die ten. ohne übergang in med., die
part. deſto iſt unverſtanden fortgeführte formverhärtung.-
Die beiden ſtufen des ziſchlauts beſtehen und zwar z.
unverändert, wie im mittelh. nur daß in- und ausl.
vor kurzem vocal jedesmahl gem. tz. geſchrieben wird:
ſchatz, ſitz, ſchätze, ſitzen, ſetzte. Mit dem Ʒ hat
ſich manches nachtheilige zugetragen: 1) es wird ß. (ſz)
geſchrieben. welches eigentlich die mittelh. gem. ƷƷ
ausdrückt, aber auch fürs einf. Ʒ gilt, z. b. frâß (voca-
vit) mâß (modus) grôß (magnus) iß (ede) daß (quod)
waßer (aqua) laßen (ſinere) eßen (edere) ſtôßen (trudere)
weiß (albus) etc. Man beachte den unorganiſchen wech-
ſel langer und kurzer vocale in denſelben wörtern: eßen,
âß, meßen, màß Seit ß. ale wirkliche gemin. erſchien,
nicht mehr als bloße conſ. verbindung oder aſſibilation
(was es urſprünglich doch war) legte man ihm die wir-
kung aller übrigen gem. nämlich vocalverkürzung bei
und wandelte làƷen, in laßen, gôƷ (fudit) in goß, muoƷ,
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[526/0552] I. neuhochdeutſche conſonanten. linguales. werth u. a. m. Vielleicht dachte man den in gemeiner ausſprache dem d ſich genäherten laut des t hervorzu- heben. wenn man hinter ihm ein h einſchaltete. Die wahrſcheinlichere urſache dieſes tadelhaften th. iſt aber, daß man ein dem wurzelvoc. nachgeſetztes dehnungs-h misbräuchlich ihm vorſetzte, alſo tuhn, tahl in thun, thal wandelte; in büchern des 16. 17. jahrh. iſt ganz auf gleiche weiſe jhar, jheling, jhenen ſt. jahr, jehling, jehnen (jenen) ghen ſt. gehn, khun ſt kühn, mhü ſt. mühe, rhu, rhum ſt. ruhe, ruhm entſprungen; mit recht hat man dergl. jh. gh. kh. mh. rh ſpäter verworfen die einzelnen th unſchicklich behalten. Auf unterſcheidun- gen wie hût (pileus) hûth (paſcuum) tôn (ſonus) thôn (argilla), welche im organiſmus der lautverhältniſſe unſerer ſprache unbegründet ſcheinen, halte ich nichts; müßen wir doch thôr (ſtultus) von thôr (porta) un- unterſchieden laßen (mittelh. tôre und tor). — Die ſ. 408. unter 1. nachgewieſene anomalie dauert fort und vermehrt ſich dadurch, daß d und tt wechſeln, letzteres auch ſelbſt den ſing. praet. einnimmt, vgl. ſchneiden, ſchnitt, ſchnitten, ebenſo leiden und ſieden, ſott, ſotten, wogegen meiden:mied, mieden bekommt, In ſtreiten, reiten, gleiten, bieten iſt zwar kein wech- ſel der ten. und med. möglich, aber die unnatürliche gem. der ten. tritt bei den drei erſtgenannten verbis, nicht bei dem letzten ein. — In den fällen ſ. 408. 2. 3. bleibt jetzt immer die ten. ohne übergang in med., die part. deſto iſt unverſtanden fortgeführte formverhärtung.- Die beiden ſtufen des ziſchlauts beſtehen und zwar z. unverändert, wie im mittelh. nur daß in- und ausl. vor kurzem vocal jedesmahl gem. tz. geſchrieben wird: ſchatz, ſitz, ſchätze, ſitzen, ſetzte. Mit dem Ʒ hat ſich manches nachtheilige zugetragen: 1) es wird ß. (ſz) geſchrieben. welches eigentlich die mittelh. gem. ƷƷ ausdrückt, aber auch fürs einf. Ʒ gilt, z. b. frâß (voca- vit) mâß (modus) grôß (magnus) iß (ede) daß (quod) waßer (aqua) laßen (ſinere) eßen (edere) ſtôßen (trudere) weiß (albus) etc. Man beachte den unorganiſchen wech- ſel langer und kurzer vocale in denſelben wörtern: eßen, âß, meßen, màß Seit ß. ale wirkliche gemin. erſchien, nicht mehr als bloße conſ. verbindung oder aſſibilation (was es urſprünglich doch war) legte man ihm die wir- kung aller übrigen gem. nämlich vocalverkürzung bei und wandelte làƷen, in laßen, gôƷ (fudit) in goß, muoƷ, mueƷen in muß, müßen, ja nach einiger ausſprachs

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. 526. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/552>, abgerufen am 28.04.2024.