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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826.

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III. composition. schlußbemerkungen.

2) nur solche composita werden abgeleiteten wörtern
älmlich und vergleichbar, deren zweiter theil abstracte
oder allgemeine begriffe ausdrückt (s. 543. 544. 579.). So
ist schön-heit gleichviel mit dem ahd. scon-ei; fähr-mann
mit ahd. fer-jo; früh-jahr mit frühling (wie spät-jahr
herbst); bettel-mann, wasch-frau mit bettel-er, wäscher-
in und zumahl vertreten die adjectivischen -lich, -haft,
-fest die stelle bloßer ableitungen, obgleich sie ursprüng-
lich größeren nachdruck hatten. Im grunde bezeichnet
fähr-mann einen mann, der das überfahren treibt (neben
fuhr-mann, haus-mann, berg-mann), ferge aber das
männliche geschlecht des überfahrenden (im gegensatz zu
fähr-frau); im grunde hat unser töd-lich, sterb-lich einen
lebhafteren sinn als das ahd. tod-eic, stirp-eic, wie wir
leicht fühlen, wenn wir andere im gang gebliebene deri-
vata in composita umsetzen, z. b. schlüß-el, züg-el, schleg-
el in schließ-werkzeug, zieh-w. schlag-w. Allein die spä-
tere sprache gewöhnte sich daran, zweite wörter aus
zusammensetzungen abstract und wie ableitungsmittel zu
brauchen; die volkssprache hat sogar einzelne composita,
nachdem sie den ton ganz aus dem zweiten wort gezo-
gen und auf das erste geworfen, in scheinbare derivata
verwandelt (hen-sche für hand-schuh, win-gert f. wein-
garte, gleichsam hensch-e, wing-ert). Einige verdunkelte
ableitungen entspringen vermuthlich aus zusammensetzun-
gen, umgekehrt haben einige wirkliche ableitungen den
schein abstracter compositionsformen angenommen, z. b.
-sal, -nis, wie oben dargethan worden ist.

3) die compositionsfertigkeit aller deutschen mundarten
ist ein schätzbarer vortheil; wir besitzen dadurch eine
große zahl lebensvoller, dichterischer ausdrücke, die sich
oft gar nicht in andere sprachen übersetzen laßen. Diese
fremden sprachen übertreffen uns gleichwohl nicht selten
an einfachen wörtern und ableitungsmitteln. Composita
sind schön, wenn sie zwei begriffe in ein bild zusammen-
faßen, weniger, wenn sie einen begriff zwischen zwei
wörter vertheilen. In den gedichten anderer neuerer
sprachen sind vielleicht nicht genug composita, in un-
serer prosa ihrer zu viel. Die zusammensetzung ist äußer-
lich schleppender und anmaßender als die ableitung und
der überfluß abstracter compositionsformeln auf kosten
untergegangner einfacher wörter oder ableitungen scheint
mir ein nachtheil. Die lat. malus (litth. obelis), vinea
(litth. wyniczia), lotrix (litth. skalbeje), mulctra und viele
solche verdienen den vorzug vor unserm apfel-baum,

III. compoſition. ſchlußbemerkungen.

2) nur ſolche compoſita werden abgeleiteten wörtern
älmlich und vergleichbar, deren zweiter theil abſtracte
oder allgemeine begriffe ausdrückt (ſ. 543. 544. 579.). So
iſt ſchön-heit gleichviel mit dem ahd. ſcôn-î; fähr-mann
mit ahd. fer-jô; früh-jahr mit frühling (wie ſpät-jahr
herbſt); bettel-mann, waſch-frau mit bettel-er, wäſcher-
in und zumahl vertreten die adjectiviſchen -lich, -haft,
-feſt die ſtelle bloßer ableitungen, obgleich ſie urſprüng-
lich größeren nachdruck hatten. Im grunde bezeichnet
fähr-mann einen mann, der das überfahren treibt (neben
fuhr-mann, haus-mann, berg-mann), ferge aber das
männliche geſchlecht des überfahrenden (im gegenſatz zu
fähr-frau); im grunde hat unſer töd-lich, ſterb-lich einen
lebhafteren ſinn als das ahd. tôd-îc, ſtirp-îc, wie wir
leicht fühlen, wenn wir andere im gang gebliebene deri-
vata in compoſita umſetzen, z. b. ſchlüß-el, züg-el, ſchleg-
el in ſchließ-werkzeug, zieh-w. ſchlag-w. Allein die ſpä-
tere ſprache gewöhnte ſich daran, zweite wörter aus
zuſammenſetzungen abſtract und wie ableitungsmittel zu
brauchen; die volksſprache hat ſogar einzelne compoſita,
nachdem ſie den ton ganz aus dem zweiten wort gezo-
gen und auf das erſte geworfen, in ſcheinbare derivata
verwandelt (hen-ſche für hand-ſchuh, win-gert f. wein-
garte, gleichſam henſch-e, wing-ert). Einige verdunkelte
ableitungen entſpringen vermuthlich aus zuſammenſetzun-
gen, umgekehrt haben einige wirkliche ableitungen den
ſchein abſtracter compoſitionsformen angenommen, z. b.
-ſal, -nis, wie oben dargethan worden iſt.

3) die compoſitionsfertigkeit aller deutſchen mundarten
iſt ein ſchätzbarer vortheil; wir beſitzen dadurch eine
große zahl lebensvoller, dichteriſcher ausdrücke, die ſich
oft gar nicht in andere ſprachen überſetzen laßen. Dieſe
fremden ſprachen übertreffen uns gleichwohl nicht ſelten
an einfachen wörtern und ableitungsmitteln. Compoſita
ſind ſchön, wenn ſie zwei begriffe in ein bild zuſammen-
faßen, weniger, wenn ſie einen begriff zwiſchen zwei
wörter vertheilen. In den gedichten anderer neuerer
ſprachen ſind vielleicht nicht genug compoſita, in un-
ſerer proſa ihrer zu viel. Die zuſammenſetzung iſt äußer-
lich ſchleppender und anmaßender als die ableitung und
der überfluß abſtracter compoſitionsformeln auf koſten
untergegangner einfacher wörter oder ableitungen ſcheint
mir ein nachtheil. Die lat. malus (litth. obelis), vinea
(litth. wyniczia), lotrix (litth. ſkalbeje), mulctra und viele
ſolche verdienen den vorzug vor unſerm apfel-baum,

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[965/0983] III. compoſition. ſchlußbemerkungen. 2) nur ſolche compoſita werden abgeleiteten wörtern älmlich und vergleichbar, deren zweiter theil abſtracte oder allgemeine begriffe ausdrückt (ſ. 543. 544. 579.). So iſt ſchön-heit gleichviel mit dem ahd. ſcôn-î; fähr-mann mit ahd. fer-jô; früh-jahr mit frühling (wie ſpät-jahr herbſt); bettel-mann, waſch-frau mit bettel-er, wäſcher- in und zumahl vertreten die adjectiviſchen -lich, -haft, -feſt die ſtelle bloßer ableitungen, obgleich ſie urſprüng- lich größeren nachdruck hatten. Im grunde bezeichnet fähr-mann einen mann, der das überfahren treibt (neben fuhr-mann, haus-mann, berg-mann), ferge aber das männliche geſchlecht des überfahrenden (im gegenſatz zu fähr-frau); im grunde hat unſer töd-lich, ſterb-lich einen lebhafteren ſinn als das ahd. tôd-îc, ſtirp-îc, wie wir leicht fühlen, wenn wir andere im gang gebliebene deri- vata in compoſita umſetzen, z. b. ſchlüß-el, züg-el, ſchleg- el in ſchließ-werkzeug, zieh-w. ſchlag-w. Allein die ſpä- tere ſprache gewöhnte ſich daran, zweite wörter aus zuſammenſetzungen abſtract und wie ableitungsmittel zu brauchen; die volksſprache hat ſogar einzelne compoſita, nachdem ſie den ton ganz aus dem zweiten wort gezo- gen und auf das erſte geworfen, in ſcheinbare derivata verwandelt (hen-ſche für hand-ſchuh, win-gert f. wein- garte, gleichſam henſch-e, wing-ert). Einige verdunkelte ableitungen entſpringen vermuthlich aus zuſammenſetzun- gen, umgekehrt haben einige wirkliche ableitungen den ſchein abſtracter compoſitionsformen angenommen, z. b. -ſal, -nis, wie oben dargethan worden iſt. 3) die compoſitionsfertigkeit aller deutſchen mundarten iſt ein ſchätzbarer vortheil; wir beſitzen dadurch eine große zahl lebensvoller, dichteriſcher ausdrücke, die ſich oft gar nicht in andere ſprachen überſetzen laßen. Dieſe fremden ſprachen übertreffen uns gleichwohl nicht ſelten an einfachen wörtern und ableitungsmitteln. Compoſita ſind ſchön, wenn ſie zwei begriffe in ein bild zuſammen- faßen, weniger, wenn ſie einen begriff zwiſchen zwei wörter vertheilen. In den gedichten anderer neuerer ſprachen ſind vielleicht nicht genug compoſita, in un- ſerer proſa ihrer zu viel. Die zuſammenſetzung iſt äußer- lich ſchleppender und anmaßender als die ableitung und der überfluß abſtracter compoſitionsformeln auf koſten untergegangner einfacher wörter oder ableitungen ſcheint mir ein nachtheil. Die lat. malus (litth. obelis), vinea (litth. wyniczia), lotrix (litth. ſkalbeje), mulctra und viele ſolche verdienen den vorzug vor unſerm apfel-baum,

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826, S. 965. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/983>, abgerufen am 29.04.2024.