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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812.

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fürchtete sich aber vor ihrer Stiefmutter und
bat ihn, er mögte sie nur noch die Nacht in
dem Schloß lassen; in der Nacht aber entfloh
sie, und gerade zu in den Wald hinein.

Als sie auch den ganzen Tag bis zum
Abend fortgegangen war, kam sie zu einer Wild-
hütte. Sie stieg hinauf und fand eine Stube
mit sechs kleinen Betten; weil sie nun müde
war, legte sie sich unter eins und wollte da die
Nacht zubringen. Bei Sonnenuntergang aber
kamen sechs Schwäne durch das Fenster herein-
geflogen, setzten sich auf den Boden und bliesen
einander an, und bliesen sich alle Federn ab,
wie ein Tuch sich abstreift, und da waren es
ihre sechs Brüder. Sie kroch unter dem Bett
hervor, und die Brüder waren beides erfreut
und betrübt, sie zu sehen: "du kannst hier nicht
bleiben, sagten sie, das ist eine Räuberherberg,
wenn die Räuber von ihrem Zuge heimkom-
men, dann wohnen sie hier. Alle Abend kön-
nen wir uns aber eine Viertelstunde lang die
Schwanenhaut gänzlich abblasen, und auf so
lange unsere menschliche Gestalt haben, hernach
aber ist es wieder vorbei. Wenn du uns erlösen
willst, mußt du in sechs Jahren sechs Hemd-
lein aus Sternblumen zusammennähen, wäh-
rend der Zeit aber darfst du nicht sprechen und
nicht lachen, sonst ist alle Arbeit verloren."
Und als die Brüder das gesprochen hatten, war

fuͤrchtete ſich aber vor ihrer Stiefmutter und
bat ihn, er moͤgte ſie nur noch die Nacht in
dem Schloß laſſen; in der Nacht aber entfloh
ſie, und gerade zu in den Wald hinein.

Als ſie auch den ganzen Tag bis zum
Abend fortgegangen war, kam ſie zu einer Wild-
huͤtte. Sie ſtieg hinauf und fand eine Stube
mit ſechs kleinen Betten; weil ſie nun muͤde
war, legte ſie ſich unter eins und wollte da die
Nacht zubringen. Bei Sonnenuntergang aber
kamen ſechs Schwaͤne durch das Fenſter herein-
geflogen, ſetzten ſich auf den Boden und blieſen
einander an, und blieſen ſich alle Federn ab,
wie ein Tuch ſich abſtreift, und da waren es
ihre ſechs Bruͤder. Sie kroch unter dem Bett
hervor, und die Bruͤder waren beides erfreut
und betruͤbt, ſie zu ſehen: „du kannſt hier nicht
bleiben, ſagten ſie, das iſt eine Raͤuberherberg,
wenn die Raͤuber von ihrem Zuge heimkom-
men, dann wohnen ſie hier. Alle Abend koͤn-
nen wir uns aber eine Viertelſtunde lang die
Schwanenhaut gaͤnzlich abblaſen, und auf ſo
lange unſere menſchliche Geſtalt haben, hernach
aber iſt es wieder vorbei. Wenn du uns erloͤſen
willſt, mußt du in ſechs Jahren ſechs Hemd-
lein aus Sternblumen zuſammennaͤhen, waͤh-
rend der Zeit aber darfſt du nicht ſprechen und
nicht lachen, ſonſt iſt alle Arbeit verloren.“
Und als die Bruͤder das geſprochen hatten, war

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[222/0256] fuͤrchtete ſich aber vor ihrer Stiefmutter und bat ihn, er moͤgte ſie nur noch die Nacht in dem Schloß laſſen; in der Nacht aber entfloh ſie, und gerade zu in den Wald hinein. Als ſie auch den ganzen Tag bis zum Abend fortgegangen war, kam ſie zu einer Wild- huͤtte. Sie ſtieg hinauf und fand eine Stube mit ſechs kleinen Betten; weil ſie nun muͤde war, legte ſie ſich unter eins und wollte da die Nacht zubringen. Bei Sonnenuntergang aber kamen ſechs Schwaͤne durch das Fenſter herein- geflogen, ſetzten ſich auf den Boden und blieſen einander an, und blieſen ſich alle Federn ab, wie ein Tuch ſich abſtreift, und da waren es ihre ſechs Bruͤder. Sie kroch unter dem Bett hervor, und die Bruͤder waren beides erfreut und betruͤbt, ſie zu ſehen: „du kannſt hier nicht bleiben, ſagten ſie, das iſt eine Raͤuberherberg, wenn die Raͤuber von ihrem Zuge heimkom- men, dann wohnen ſie hier. Alle Abend koͤn- nen wir uns aber eine Viertelſtunde lang die Schwanenhaut gaͤnzlich abblaſen, und auf ſo lange unſere menſchliche Geſtalt haben, hernach aber iſt es wieder vorbei. Wenn du uns erloͤſen willſt, mußt du in ſechs Jahren ſechs Hemd- lein aus Sternblumen zuſammennaͤhen, waͤh- rend der Zeit aber darfſt du nicht ſprechen und nicht lachen, ſonſt iſt alle Arbeit verloren.“ Und als die Bruͤder das geſprochen hatten, war

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/256>, abgerufen am 06.05.2024.