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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812.

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saßen und es zwölf Uhr schlug, da sah der
Fremde die Thür aufgehen, und es kam ein
schneeweiß gekleidetes blasses Kindlein herein:
es blickte sich nicht um, sprach auch nichts, son-
dern ging still in die Kammer neben an. Bald
darauf kam es zurück, und ging eben so still
wieder fort. Am zweiten und dritten Tag kam
dasselbige Kind wieder; da fragte der Fremde
den Vater, wem das schöne Kind gehöre, das
alle Mittag in die Kammer gehe. Der Va-
ter antwortete, er wisse nichts davon, er hab
es auch noch nicht gesehen. Am andern Ta-
ge, als es zwölf Uhr schlug und es wieder
hereintrat, so zeigte es der Fremde dem Vater,
der sah aber nichts, und die Mutter und die
Kinder alle sahen auch nichts. Der Fremde
stand auf, ging zu der Thüre, öffnete sie ein
wenig und guckte hinein. Da sah er das blas-
se Kindlein auf der Erde sitzen und emsig mit
den Fingern in den Dielenritzen graben und
wühlen, wie es aber den Fremden bemerkte,
verschwand es. Darauf erzählte er, was er ge-
sehen, und beschrieb das Kindlein genau, da er-
kannte es die Mutter und sagte: "ach! das ist
mein liebes Kind, das vor vier Wochen gestor-
ben ist." Da brachen sie die Dielen auf und
fanden zwei Heller, die hatte das Kind einmal
einem armen Mann geben sollen, es hatte aber
gedacht, dafür kannst du dir einen Zwieback

ſaßen und es zwoͤlf Uhr ſchlug, da ſah der
Fremde die Thuͤr aufgehen, und es kam ein
ſchneeweiß gekleidetes blaſſes Kindlein herein:
es blickte ſich nicht um, ſprach auch nichts, ſon-
dern ging ſtill in die Kammer neben an. Bald
darauf kam es zuruͤck, und ging eben ſo ſtill
wieder fort. Am zweiten und dritten Tag kam
daſſelbige Kind wieder; da fragte der Fremde
den Vater, wem das ſchoͤne Kind gehoͤre, das
alle Mittag in die Kammer gehe. Der Va-
ter antwortete, er wiſſe nichts davon, er hab
es auch noch nicht geſehen. Am andern Ta-
ge, als es zwoͤlf Uhr ſchlug und es wieder
hereintrat, ſo zeigte es der Fremde dem Vater,
der ſah aber nichts, und die Mutter und die
Kinder alle ſahen auch nichts. Der Fremde
ſtand auf, ging zu der Thuͤre, oͤffnete ſie ein
wenig und guckte hinein. Da ſah er das blaſ-
ſe Kindlein auf der Erde ſitzen und emſig mit
den Fingern in den Dielenritzen graben und
wuͤhlen, wie es aber den Fremden bemerkte,
verſchwand es. Darauf erzaͤhlte er, was er ge-
ſehen, und beſchrieb das Kindlein genau, da er-
kannte es die Mutter und ſagte: „ach! das iſt
mein liebes Kind, das vor vier Wochen geſtor-
ben iſt.“ Da brachen ſie die Dielen auf und
fanden zwei Heller, die hatte das Kind einmal
einem armen Mann geben ſollen, es hatte aber
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[22/0056] ſaßen und es zwoͤlf Uhr ſchlug, da ſah der Fremde die Thuͤr aufgehen, und es kam ein ſchneeweiß gekleidetes blaſſes Kindlein herein: es blickte ſich nicht um, ſprach auch nichts, ſon- dern ging ſtill in die Kammer neben an. Bald darauf kam es zuruͤck, und ging eben ſo ſtill wieder fort. Am zweiten und dritten Tag kam daſſelbige Kind wieder; da fragte der Fremde den Vater, wem das ſchoͤne Kind gehoͤre, das alle Mittag in die Kammer gehe. Der Va- ter antwortete, er wiſſe nichts davon, er hab es auch noch nicht geſehen. Am andern Ta- ge, als es zwoͤlf Uhr ſchlug und es wieder hereintrat, ſo zeigte es der Fremde dem Vater, der ſah aber nichts, und die Mutter und die Kinder alle ſahen auch nichts. Der Fremde ſtand auf, ging zu der Thuͤre, oͤffnete ſie ein wenig und guckte hinein. Da ſah er das blaſ- ſe Kindlein auf der Erde ſitzen und emſig mit den Fingern in den Dielenritzen graben und wuͤhlen, wie es aber den Fremden bemerkte, verſchwand es. Darauf erzaͤhlte er, was er ge- ſehen, und beſchrieb das Kindlein genau, da er- kannte es die Mutter und ſagte: „ach! das iſt mein liebes Kind, das vor vier Wochen geſtor- ben iſt.“ Da brachen ſie die Dielen auf und fanden zwei Heller, die hatte das Kind einmal einem armen Mann geben ſollen, es hatte aber gedacht, dafuͤr kannſt du dir einen Zwieback

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/56>, abgerufen am 29.04.2024.