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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819.

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einen schönen Knaben gebar, da übte die falsche Schwiegermutter denselben Betrug aus, aber der König konnte sich nicht entschließen, ihren Reden Glauben beizumessen und sprach: "sie ist stumm und kann sich nicht vertheidigen, sonst würde ihre Unschuld an den Tag kommen." Als aber zum drittenmal die Alte das neugeborne Kind raubte und die Königin anklagte, die kein Wort zu ihrer Vertheidigung sprach, da konnte der König die Gesetze nicht länger abwenden und sie ward verurtheilt, durch Feuer vom Leben zum Tod gebracht zu werden.

Als der Tag herankam, wo das Urtheil sollte vollzogen werden, da war auch gerade der letzte Tag von den sechs Jahren, in denen sie nicht sprechen und nicht lachen durfte, um ihre lieben Brüder aus des Zaubers Macht zu befreien. Die sechs Hemden waren fertig geworden, nur daß an dem letzten der linke Aermel fehlte. Wie sie nun zum Scheiterhaufen geführt wurde, nahm sie die sechs Hemden mit sich und als sie oben stand und das Feuer eben sollte angezündet werden, schaute sie aufwärts und sah sechs Schwäne durch die Luft her ziehen. Da regte sich ihr Herz in Freuden und sie sprach zu sich: "ach Gott, nun soll die schwere Zeit herum seyn!" Die Schwäne rauschten bald über ihr und senkten sich herab, daß sie die Hemden überwerfen konnte, und wie sie davon berührt waren, fielen die Schwanenhäute ab und ihre Brüder standen leibhaftig, frisch und schön vor ihr; nur dem sechsten fehlte der linke Arm und er hatte dafür einen Schwanenflügel an dem Rücken. Sie herzten sich und küßten sich und die Königin ging darauf zum König, der ganz bestürzt war, und

einen schoͤnen Knaben gebar, da uͤbte die falsche Schwiegermutter denselben Betrug aus, aber der Koͤnig konnte sich nicht entschließen, ihren Reden Glauben beizumessen und sprach: „sie ist stumm und kann sich nicht vertheidigen, sonst wuͤrde ihre Unschuld an den Tag kommen.“ Als aber zum drittenmal die Alte das neugeborne Kind raubte und die Koͤnigin anklagte, die kein Wort zu ihrer Vertheidigung sprach, da konnte der Koͤnig die Gesetze nicht laͤnger abwenden und sie ward verurtheilt, durch Feuer vom Leben zum Tod gebracht zu werden.

Als der Tag herankam, wo das Urtheil sollte vollzogen werden, da war auch gerade der letzte Tag von den sechs Jahren, in denen sie nicht sprechen und nicht lachen durfte, um ihre lieben Bruͤder aus des Zaubers Macht zu befreien. Die sechs Hemden waren fertig geworden, nur daß an dem letzten der linke Aermel fehlte. Wie sie nun zum Scheiterhaufen gefuͤhrt wurde, nahm sie die sechs Hemden mit sich und als sie oben stand und das Feuer eben sollte angezuͤndet werden, schaute sie aufwaͤrts und sah sechs Schwaͤne durch die Luft her ziehen. Da regte sich ihr Herz in Freuden und sie sprach zu sich: „ach Gott, nun soll die schwere Zeit herum seyn!“ Die Schwaͤne rauschten bald uͤber ihr und senkten sich herab, daß sie die Hemden uͤberwerfen konnte, und wie sie davon beruͤhrt waren, fielen die Schwanenhaͤute ab und ihre Bruͤder standen leibhaftig, frisch und schoͤn vor ihr; nur dem sechsten fehlte der linke Arm und er hatte dafuͤr einen Schwanenfluͤgel an dem Ruͤcken. Sie herzten sich und kuͤßten sich und die Koͤnigin ging darauf zum Koͤnig, der ganz bestuͤrzt war, und

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[248/0312] einen schoͤnen Knaben gebar, da uͤbte die falsche Schwiegermutter denselben Betrug aus, aber der Koͤnig konnte sich nicht entschließen, ihren Reden Glauben beizumessen und sprach: „sie ist stumm und kann sich nicht vertheidigen, sonst wuͤrde ihre Unschuld an den Tag kommen.“ Als aber zum drittenmal die Alte das neugeborne Kind raubte und die Koͤnigin anklagte, die kein Wort zu ihrer Vertheidigung sprach, da konnte der Koͤnig die Gesetze nicht laͤnger abwenden und sie ward verurtheilt, durch Feuer vom Leben zum Tod gebracht zu werden. Als der Tag herankam, wo das Urtheil sollte vollzogen werden, da war auch gerade der letzte Tag von den sechs Jahren, in denen sie nicht sprechen und nicht lachen durfte, um ihre lieben Bruͤder aus des Zaubers Macht zu befreien. Die sechs Hemden waren fertig geworden, nur daß an dem letzten der linke Aermel fehlte. Wie sie nun zum Scheiterhaufen gefuͤhrt wurde, nahm sie die sechs Hemden mit sich und als sie oben stand und das Feuer eben sollte angezuͤndet werden, schaute sie aufwaͤrts und sah sechs Schwaͤne durch die Luft her ziehen. Da regte sich ihr Herz in Freuden und sie sprach zu sich: „ach Gott, nun soll die schwere Zeit herum seyn!“ Die Schwaͤne rauschten bald uͤber ihr und senkten sich herab, daß sie die Hemden uͤberwerfen konnte, und wie sie davon beruͤhrt waren, fielen die Schwanenhaͤute ab und ihre Bruͤder standen leibhaftig, frisch und schoͤn vor ihr; nur dem sechsten fehlte der linke Arm und er hatte dafuͤr einen Schwanenfluͤgel an dem Ruͤcken. Sie herzten sich und kuͤßten sich und die Koͤnigin ging darauf zum Koͤnig, der ganz bestuͤrzt war, und

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Anmerkungen zur Transkription:

Zusätzlich zu dieser historischen Ausgabe gibt es in der 2004 von Prof. Hans-Jörg Uther herausgegebenen und im Olms-Verlag erschienenen Ausgabe (ISBN 978-3-487-12545-9) in Bd. 1, S. 7–27 ein aussagekräftiges Vorwort.




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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819, S. 248. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1819/312>, abgerufen am 29.04.2024.