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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819.

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sie das Kind mit ihren Wundergaben; die eine mit Tugend, die andere mit Schönheit, die dritte mit Reichthum und so mit allem, was Herrliches auf der Welt ist. Als zehn ihre Wünsche eben gethan hatten, kam die dreizehnte herein, die nicht eingeladen war und sich dafür rächen wollte. Sie rief: "die Königstochter soll sich in ihrem fünfzehnten Jahr an einer Spindel stechen und todt hinfallen." Da trat die zwölfte hervor, die noch einen Wunsch übrig hatte; zwar konnte sie den bösen Ausspruch nicht aufheben, aber sie konnte ihn doch mildern und sprach: "es soll aber kein Tod seyn, sondern ein hundertjähriger tiefer Schlaf, in den die Königstochter fällt."

Der König hoffte sein liebes Kind noch vor dem Ausspruch zu bewahren und ließ den Befehl ausgehen, daß alle Spindeln im ganzen Königreich sollten abgeschafft werden. An dem Mädchen aber wurden alle die Gaben der weisen Frauen erfüllt, denn es war so schön, sittsam, freundlich und verständig, daß es jedermann, der es ansah, lieb haben mußte. Es geschah, daß an dem Tage, wo es gerade funfzehn Jahr alt ward, der König und die Königin nicht zu Haus waren und das Fräulein ganz allein im Schloß zurückblieb. Da ging es aller Orten herum, besah Stuben und Kammern, wie es Lust hatte und kam endlich auch an einen alten Thurm. Es stieg eine enge Treppe hinauf und gelangte zu einer kleinen Thüre. Jn dem Schloß steckte ein gelber Schlüssel und als es umdrehte, sprang die Thüre auf und saß da in einem kleinen Stübchen eine alte Frau und spann emsig ihren Flachs. "Ei du altes Mütterchen, sprach die Königstochter, was

sie das Kind mit ihren Wundergaben; die eine mit Tugend, die andere mit Schoͤnheit, die dritte mit Reichthum und so mit allem, was Herrliches auf der Welt ist. Als zehn ihre Wuͤnsche eben gethan hatten, kam die dreizehnte herein, die nicht eingeladen war und sich dafuͤr raͤchen wollte. Sie rief: „die Koͤnigstochter soll sich in ihrem fuͤnfzehnten Jahr an einer Spindel stechen und todt hinfallen.“ Da trat die zwoͤlfte hervor, die noch einen Wunsch uͤbrig hatte; zwar konnte sie den boͤsen Ausspruch nicht aufheben, aber sie konnte ihn doch mildern und sprach: „es soll aber kein Tod seyn, sondern ein hundertjaͤhriger tiefer Schlaf, in den die Koͤnigstochter faͤllt.“

Der Koͤnig hoffte sein liebes Kind noch vor dem Ausspruch zu bewahren und ließ den Befehl ausgehen, daß alle Spindeln im ganzen Koͤnigreich sollten abgeschafft werden. An dem Maͤdchen aber wurden alle die Gaben der weisen Frauen erfuͤllt, denn es war so schoͤn, sittsam, freundlich und verstaͤndig, daß es jedermann, der es ansah, lieb haben mußte. Es geschah, daß an dem Tage, wo es gerade funfzehn Jahr alt ward, der Koͤnig und die Koͤnigin nicht zu Haus waren und das Fraͤulein ganz allein im Schloß zuruͤckblieb. Da ging es aller Orten herum, besah Stuben und Kammern, wie es Lust hatte und kam endlich auch an einen alten Thurm. Es stieg eine enge Treppe hinauf und gelangte zu einer kleinen Thuͤre. Jn dem Schloß steckte ein gelber Schluͤssel und als es umdrehte, sprang die Thuͤre auf und saß da in einem kleinen Stuͤbchen eine alte Frau und spann emsig ihren Flachs. „Ei du altes Muͤtterchen, sprach die Koͤnigstochter, was

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[250/0314] sie das Kind mit ihren Wundergaben; die eine mit Tugend, die andere mit Schoͤnheit, die dritte mit Reichthum und so mit allem, was Herrliches auf der Welt ist. Als zehn ihre Wuͤnsche eben gethan hatten, kam die dreizehnte herein, die nicht eingeladen war und sich dafuͤr raͤchen wollte. Sie rief: „die Koͤnigstochter soll sich in ihrem fuͤnfzehnten Jahr an einer Spindel stechen und todt hinfallen.“ Da trat die zwoͤlfte hervor, die noch einen Wunsch uͤbrig hatte; zwar konnte sie den boͤsen Ausspruch nicht aufheben, aber sie konnte ihn doch mildern und sprach: „es soll aber kein Tod seyn, sondern ein hundertjaͤhriger tiefer Schlaf, in den die Koͤnigstochter faͤllt.“ Der Koͤnig hoffte sein liebes Kind noch vor dem Ausspruch zu bewahren und ließ den Befehl ausgehen, daß alle Spindeln im ganzen Koͤnigreich sollten abgeschafft werden. An dem Maͤdchen aber wurden alle die Gaben der weisen Frauen erfuͤllt, denn es war so schoͤn, sittsam, freundlich und verstaͤndig, daß es jedermann, der es ansah, lieb haben mußte. Es geschah, daß an dem Tage, wo es gerade funfzehn Jahr alt ward, der Koͤnig und die Koͤnigin nicht zu Haus waren und das Fraͤulein ganz allein im Schloß zuruͤckblieb. Da ging es aller Orten herum, besah Stuben und Kammern, wie es Lust hatte und kam endlich auch an einen alten Thurm. Es stieg eine enge Treppe hinauf und gelangte zu einer kleinen Thuͤre. Jn dem Schloß steckte ein gelber Schluͤssel und als es umdrehte, sprang die Thuͤre auf und saß da in einem kleinen Stuͤbchen eine alte Frau und spann emsig ihren Flachs. „Ei du altes Muͤtterchen, sprach die Koͤnigstochter, was

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Anmerkungen zur Transkription:

Zusätzlich zu dieser historischen Ausgabe gibt es in der 2004 von Prof. Hans-Jörg Uther herausgegebenen und im Olms-Verlag erschienenen Ausgabe (ISBN 978-3-487-12545-9) in Bd. 1, S. 7–27 ein aussagekräftiges Vorwort.




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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1819/314>, abgerufen am 29.04.2024.