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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819.

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muß er ihm folgen, aber nun will ihn weder der Himmel noch die Hölle einlassen, bis er durch einen guten Einfall in jenen sich Eingang verschafft. Gewißermaßen macht der Schneider, welcher, als er aus Gnaden in den Himmel aufgenommen worden, dort Richter über die Sünden seyn will, und wieder ausgestoßen wird, das Gegenstück zu ihm. Jn der Legende ist der heil. Christoph, der sich einen Herrn sucht, dem Teufel dient, und mit Verachtung ihn verläßt, weil er vor dem Christkind erschrickt, nach diesen Sagen gebildet.

Endlich der Aufschneider; in ihm gibt sich die reine und weil sie unverholen ist, schuldlose Lust an der Lüge kund. Die menschliche Einbildungskraft hat das natürliche Verlangen, einmal die Arme, so weit sie kann, auszustrecken, und ungestört das große Messer, das alle Schranken zerschneidet zu handhaben. Jn diesem Sinne ist das Märchen von dem aus dem Himmel geholten Dreschflegel gedacht; nur ein Schritt weiter, ist dann das Zusammenstellen des völligen Widerspruchs und Vereinigung des Entgegengesetzten, wie im Märchen vom Schlaraffenland. Doch mögen auch in jenen wunderbaren Künsten der sechs Diener alte Riesensagen fortdauern, die nur, nachdem aller Glaube daran sich verloren hatte, in einer solchen humoristischen Weise noch dargestellt werden konnten. Wenigstens wird das Riesenwesen, ihre Sprünge, ihr Schießen und Kugelwerfen, die sprengende Kraft ihrer Augen, ihr ungeheures Essen und Verschlingen, in den alten Sagen und Liedern ganz ähnlich, und in allem Ernst beschrieben.




muß er ihm folgen, aber nun will ihn weder der Himmel noch die Hoͤlle einlassen, bis er durch einen guten Einfall in jenen sich Eingang verschafft. Gewißermaßen macht der Schneider, welcher, als er aus Gnaden in den Himmel aufgenommen worden, dort Richter uͤber die Suͤnden seyn will, und wieder ausgestoßen wird, das Gegenstuͤck zu ihm. Jn der Legende ist der heil. Christoph, der sich einen Herrn sucht, dem Teufel dient, und mit Verachtung ihn verlaͤßt, weil er vor dem Christkind erschrickt, nach diesen Sagen gebildet.

Endlich der Aufschneider; in ihm gibt sich die reine und weil sie unverholen ist, schuldlose Lust an der Luͤge kund. Die menschliche Einbildungskraft hat das natuͤrliche Verlangen, einmal die Arme, so weit sie kann, auszustrecken, und ungestoͤrt das große Messer, das alle Schranken zerschneidet zu handhaben. Jn diesem Sinne ist das Maͤrchen von dem aus dem Himmel geholten Dreschflegel gedacht; nur ein Schritt weiter, ist dann das Zusammenstellen des voͤlligen Widerspruchs und Vereinigung des Entgegengesetzten, wie im Maͤrchen vom Schlaraffenland. Doch moͤgen auch in jenen wunderbaren Kuͤnsten der sechs Diener alte Riesensagen fortdauern, die nur, nachdem aller Glaube daran sich verloren hatte, in einer solchen humoristischen Weise noch dargestellt werden konnten. Wenigstens wird das Riesenwesen, ihre Spruͤnge, ihr Schießen und Kugelwerfen, die sprengende Kraft ihrer Augen, ihr ungeheures Essen und Verschlingen, in den alten Sagen und Liedern ganz aͤhnlich, und in allem Ernst beschrieben.




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Zusätzlich zu dieser historischen Ausgabe gibt es in der 2004 von Prof. Hans-Jörg Uther herausgegebenen und im Olms-Verlag erschienenen Ausgabe (ISBN 978-3-487-12545-9) in Bd. 1, S. 7–27 ein aussagekräftiges Vorwort.




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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819, S. LIV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1819/62>, abgerufen am 06.05.2024.