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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1857.

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aus den Armen und verschwand damit. Am andern Morgen, als das Kind nicht zu finden war, gieng ein Gemurmel unter den Leuten, die Königin wäre eine Menschenfresserin und hätte ihr eigenes Kind umgebracht. Sie hörte alles und konnte nichts dagegen sagen, der König aber wollte es nicht glauben weil er sie so lieb hatte.

Nach einem Jahr gebar die Königin wieder einen Sohn. Jn der Nacht trat auch wieder die Jungfrau Maria zu ihr herein und sprach 'willst du gestehen daß du die verbotene Thüre geöffnet hast, so will ich dir dein Kind wiedergeben und deine Zunge lösen: verharrst du aber in der Sünde und leugnest, so nehme ich auch dieses neugeborne mit mir.' Da sprach die Königin wiederum 'nein, ich habe die verbotene Thür nicht geöffnet,' und die Jungfrau nahm ihr das Kind aus den Armen weg und mit sich in den Himmel. Am Morgen, als das Kind abermals verschwunden war, sagten die Leute ganz laut die Königin hätte es verschlungen, und des Königs Räthe verlangten daß sie sollte gerichtet werden. Der König aber hatte sie so lieb daß er es nicht glauben wollte, und befahl den Räthen bei Leibes- und Lebensstrafe nichts mehr darüber zu sprechen.

Jm nächsten Jahre gebar die Königin ein schönes Töchterlein, da erschien ihr zum drittenmal Nachts die Jungfrau Maria und sprach 'folge mir.' Sie nahm sie bei der Hand und führte sie in den Himmel, und zeigte ihr da ihre beiden ältesten Kinder, die lachten sie an und spielten mit der Weltkugel. Als sich die Königin darüber freuete, sprach die Jungfrau Maria 'ist dein Herz noch nicht erweicht? wenn du eingestehst daß du die verbotene Thür geöffnet hast, so will ich dir deine beiden Söhnlein zurück geben.' Aber die Königin antwortete zum drittenmal 'nein, ich habe die verbotene Thür nicht geöffnet.' Da ließ sie die Jungfrau wieder zur Erde herabsinken und nahm ihr auch das dritte Kind.

aus den Armen und verschwand damit. Am andern Morgen, als das Kind nicht zu finden war, gieng ein Gemurmel unter den Leuten, die Königin wäre eine Menschenfresserin und hätte ihr eigenes Kind umgebracht. Sie hörte alles und konnte nichts dagegen sagen, der König aber wollte es nicht glauben weil er sie so lieb hatte.

Nach einem Jahr gebar die Königin wieder einen Sohn. Jn der Nacht trat auch wieder die Jungfrau Maria zu ihr herein und sprach ‘willst du gestehen daß du die verbotene Thüre geöffnet hast, so will ich dir dein Kind wiedergeben und deine Zunge lösen: verharrst du aber in der Sünde und leugnest, so nehme ich auch dieses neugeborne mit mir.’ Da sprach die Königin wiederum ‘nein, ich habe die verbotene Thür nicht geöffnet,’ und die Jungfrau nahm ihr das Kind aus den Armen weg und mit sich in den Himmel. Am Morgen, als das Kind abermals verschwunden war, sagten die Leute ganz laut die Königin hätte es verschlungen, und des Königs Räthe verlangten daß sie sollte gerichtet werden. Der König aber hatte sie so lieb daß er es nicht glauben wollte, und befahl den Räthen bei Leibes- und Lebensstrafe nichts mehr darüber zu sprechen.

Jm nächsten Jahre gebar die Königin ein schönes Töchterlein, da erschien ihr zum drittenmal Nachts die Jungfrau Maria und sprach ‘folge mir.’ Sie nahm sie bei der Hand und führte sie in den Himmel, und zeigte ihr da ihre beiden ältesten Kinder, die lachten sie an und spielten mit der Weltkugel. Als sich die Königin darüber freuete, sprach die Jungfrau Maria ‘ist dein Herz noch nicht erweicht? wenn du eingestehst daß du die verbotene Thür geöffnet hast, so will ich dir deine beiden Söhnlein zurück geben.’ Aber die Königin antwortete zum drittenmal ‘nein, ich habe die verbotene Thür nicht geöffnet.’ Da ließ sie die Jungfrau wieder zur Erde herabsinken und nahm ihr auch das dritte Kind.

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[13/0046] aus den Armen und verschwand damit. Am andern Morgen, als das Kind nicht zu finden war, gieng ein Gemurmel unter den Leuten, die Königin wäre eine Menschenfresserin und hätte ihr eigenes Kind umgebracht. Sie hörte alles und konnte nichts dagegen sagen, der König aber wollte es nicht glauben weil er sie so lieb hatte. Nach einem Jahr gebar die Königin wieder einen Sohn. Jn der Nacht trat auch wieder die Jungfrau Maria zu ihr herein und sprach ‘willst du gestehen daß du die verbotene Thüre geöffnet hast, so will ich dir dein Kind wiedergeben und deine Zunge lösen: verharrst du aber in der Sünde und leugnest, so nehme ich auch dieses neugeborne mit mir.’ Da sprach die Königin wiederum ‘nein, ich habe die verbotene Thür nicht geöffnet,’ und die Jungfrau nahm ihr das Kind aus den Armen weg und mit sich in den Himmel. Am Morgen, als das Kind abermals verschwunden war, sagten die Leute ganz laut die Königin hätte es verschlungen, und des Königs Räthe verlangten daß sie sollte gerichtet werden. Der König aber hatte sie so lieb daß er es nicht glauben wollte, und befahl den Räthen bei Leibes- und Lebensstrafe nichts mehr darüber zu sprechen. Jm nächsten Jahre gebar die Königin ein schönes Töchterlein, da erschien ihr zum drittenmal Nachts die Jungfrau Maria und sprach ‘folge mir.’ Sie nahm sie bei der Hand und führte sie in den Himmel, und zeigte ihr da ihre beiden ältesten Kinder, die lachten sie an und spielten mit der Weltkugel. Als sich die Königin darüber freuete, sprach die Jungfrau Maria ‘ist dein Herz noch nicht erweicht? wenn du eingestehst daß du die verbotene Thür geöffnet hast, so will ich dir deine beiden Söhnlein zurück geben.’ Aber die Königin antwortete zum drittenmal ‘nein, ich habe die verbotene Thür nicht geöffnet.’ Da ließ sie die Jungfrau wieder zur Erde herabsinken und nahm ihr auch das dritte Kind.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1857, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1857/46>, abgerufen am 30.04.2024.