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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1857.

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das Schwesterchen hörte wie es im Rauschen sprach 'wer aus mir trinkt, wird ein Tiger: wer aus mir trinkt, wird ein Tiger.' Da rief das Schwesterchen 'ich bitte dich, Brüderchen, trink nicht, sonst wirst du ein wildes Thier und zerreißest mich.' Das Brüderchen trank nicht, ob es gleich so großen Durst hatte, und sprach 'ich will warten bis zur nächsten Quelle.' Als sie zum zweiten Brünnlein kamen, hörte das Schwesterchen wie auch dieses sprach 'wer aus mir trinkt, wird ein Wolf: wer aus mir trinkt, wird ein Wolf.' Da rief das Schwesterchen 'Brüderchen, ich bitte dich, trink nicht, sonst wirst du ein Wolf und frissest mich.' Das Brüderchen trank nicht und sprach 'ich will warten, bis wir zur nächsten Quelle kommen, aber dann muß ich trinken, du magst sagen, was du willst: mein Durst ist gar zu groß.' Und als sie zum dritten Brünnlein kamen, hörte das Schwesterlein, wie es im Rauschen sprach 'wer aus mir trinkt, wird ein Reh: wer aus mir trinkt, wird ein Reh.' Das Schwesterchen sprach 'ach Brüderchen, ich bitte dich, trink nicht, sonst wirst du ein Reh und läufst mir fort.' Aber das Brüderchen hatte sich gleich beim Brünnlein nieder geknieet, hinab gebeugt und von dem Wasser getrunken, und wie die ersten Tropfen auf seine Lippen gekommen waren, lag es da als ein Rehkälbchen.

Nun weinte das Schwesterchen über das arme verwünschte Brüderchen, und das Rehchen weinte auch und saß so traurig neben ihm. Da sprach das Mädchen endlich 'sei still, liebes Rehchen, ich will dich ja nimmermehr verlassen.' Dann band es sein goldenes Strumpfband ab und that es dem Rehchen um den Hals, und rupfte Binsen und flocht ein weiches Seil daraus. Daran band es das Thierchen und führte es weiter, und gieng immer tiefer in den Wald hinein. Und als sie lange lange gegangen waren, kamen sie endlich an ein kleines Haus, und das Mädchen schaute hinein, und weil es leer war, dachte es 'hier können wir bleiben und

das Schwesterchen hörte wie es im Rauschen sprach ‘wer aus mir trinkt, wird ein Tiger: wer aus mir trinkt, wird ein Tiger.’ Da rief das Schwesterchen ‘ich bitte dich, Brüderchen, trink nicht, sonst wirst du ein wildes Thier und zerreißest mich.’ Das Brüderchen trank nicht, ob es gleich so großen Durst hatte, und sprach ‘ich will warten bis zur nächsten Quelle.’ Als sie zum zweiten Brünnlein kamen, hörte das Schwesterchen wie auch dieses sprach ‘wer aus mir trinkt, wird ein Wolf: wer aus mir trinkt, wird ein Wolf.’ Da rief das Schwesterchen ‘Brüderchen, ich bitte dich, trink nicht, sonst wirst du ein Wolf und frissest mich.’ Das Brüderchen trank nicht und sprach ‘ich will warten, bis wir zur nächsten Quelle kommen, aber dann muß ich trinken, du magst sagen, was du willst: mein Durst ist gar zu groß.’ Und als sie zum dritten Brünnlein kamen, hörte das Schwesterlein, wie es im Rauschen sprach ‘wer aus mir trinkt, wird ein Reh: wer aus mir trinkt, wird ein Reh.’ Das Schwesterchen sprach ‘ach Brüderchen, ich bitte dich, trink nicht, sonst wirst du ein Reh und läufst mir fort.’ Aber das Brüderchen hatte sich gleich beim Brünnlein nieder geknieet, hinab gebeugt und von dem Wasser getrunken, und wie die ersten Tropfen auf seine Lippen gekommen waren, lag es da als ein Rehkälbchen.

Nun weinte das Schwesterchen über das arme verwünschte Brüderchen, und das Rehchen weinte auch und saß so traurig neben ihm. Da sprach das Mädchen endlich ‘sei still, liebes Rehchen, ich will dich ja nimmermehr verlassen.’ Dann band es sein goldenes Strumpfband ab und that es dem Rehchen um den Hals, und rupfte Binsen und flocht ein weiches Seil daraus. Daran band es das Thierchen und führte es weiter, und gieng immer tiefer in den Wald hinein. Und als sie lange lange gegangen waren, kamen sie endlich an ein kleines Haus, und das Mädchen schaute hinein, und weil es leer war, dachte es ‘hier können wir bleiben und

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1857, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1857/91>, abgerufen am 29.04.2024.