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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 2. Berlin, 1815.

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Da sprach die zweite: "ja, wenn die Menschen
wüßten, was wir wissen! heute Nacht fällt ein
Thau vom Himmel, so wunderbar und heilsam,
wer blind ist und bestreicht seine Augen damit, der
erhält sein Gesicht wieder." Da sprach auch die
dritte: "ja, wenn die Menschen wüßten, was
wir wissen! Die Kröte hilft nur einem und der
Thau hilft nur wenigen, aber in der Stadt ist
große Noth, da sind alle Brunnen vertrocknet
und niemand weiß, daß der große viereckige
Stein auf dem Markt muß weggenommen und
darunter gegraben werden, dort quillt das schönste
Wasser." Wie die drei Krähen das gesagt hat-
ten, hörte er es wieder flattern und sie flogen
da fort; er aber machte sich allmälig von seinen
Banden los, und dann bückte er sich und brach ein
paar Gräserchen ab und bestrich seine Augen mit
dem Thau, der darauf gefallen war. Alsbald
ward er wieder sehend und war Mond und Sterne
am Himmel und sah er, daß er neben dem Gal-
gen stand. Darnach suchte er Scherben, und
sammelte von dem köstlichen Thau, so viel er zu-
sammenbringen konnte und wie das geschehen war,
ging er zum Teich, grub das Wasser davon ab
und holte die Kröte heraus; und dann verbrannte
er sie zu Asche und ging damit an des Königs Hof.
Da ließ er nun die Königstochter von der Asche
einnehmen und als sie gesund war, verlangte er
sie, wie es versprochen war, zur Gemahlin. Dem

Da ſprach die zweite: „ja, wenn die Menſchen
wuͤßten, was wir wiſſen! heute Nacht faͤllt ein
Thau vom Himmel, ſo wunderbar und heilſam,
wer blind iſt und beſtreicht ſeine Augen damit, der
erhaͤlt ſein Geſicht wieder.“ Da ſprach auch die
dritte: „ja, wenn die Menſchen wuͤßten, was
wir wiſſen! Die Kroͤte hilft nur einem und der
Thau hilft nur wenigen, aber in der Stadt iſt
große Noth, da ſind alle Brunnen vertrocknet
und niemand weiß, daß der große viereckige
Stein auf dem Markt muß weggenommen und
darunter gegraben werden, dort quillt das ſchoͤnſte
Waſſer.“ Wie die drei Kraͤhen das geſagt hat-
ten, hoͤrte er es wieder flattern und ſie flogen
da fort; er aber machte ſich allmaͤlig von ſeinen
Banden los, und dann buͤckte er ſich und brach ein
paar Graͤſerchen ab und beſtrich ſeine Augen mit
dem Thau, der darauf gefallen war. Alsbald
ward er wieder ſehend und war Mond und Sterne
am Himmel und ſah er, daß er neben dem Gal-
gen ſtand. Darnach ſuchte er Scherben, und
ſammelte von dem koͤſtlichen Thau, ſo viel er zu-
ſammenbringen konnte und wie das geſchehen war,
ging er zum Teich, grub das Waſſer davon ab
und holte die Kroͤte heraus; und dann verbrannte
er ſie zu Aſche und ging damit an des Koͤnigs Hof.
Da ließ er nun die Koͤnigstochter von der Aſche
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[122/0143] Da ſprach die zweite: „ja, wenn die Menſchen wuͤßten, was wir wiſſen! heute Nacht faͤllt ein Thau vom Himmel, ſo wunderbar und heilſam, wer blind iſt und beſtreicht ſeine Augen damit, der erhaͤlt ſein Geſicht wieder.“ Da ſprach auch die dritte: „ja, wenn die Menſchen wuͤßten, was wir wiſſen! Die Kroͤte hilft nur einem und der Thau hilft nur wenigen, aber in der Stadt iſt große Noth, da ſind alle Brunnen vertrocknet und niemand weiß, daß der große viereckige Stein auf dem Markt muß weggenommen und darunter gegraben werden, dort quillt das ſchoͤnſte Waſſer.“ Wie die drei Kraͤhen das geſagt hat- ten, hoͤrte er es wieder flattern und ſie flogen da fort; er aber machte ſich allmaͤlig von ſeinen Banden los, und dann buͤckte er ſich und brach ein paar Graͤſerchen ab und beſtrich ſeine Augen mit dem Thau, der darauf gefallen war. Alsbald ward er wieder ſehend und war Mond und Sterne am Himmel und ſah er, daß er neben dem Gal- gen ſtand. Darnach ſuchte er Scherben, und ſammelte von dem koͤſtlichen Thau, ſo viel er zu- ſammenbringen konnte und wie das geſchehen war, ging er zum Teich, grub das Waſſer davon ab und holte die Kroͤte heraus; und dann verbrannte er ſie zu Aſche und ging damit an des Koͤnigs Hof. Da ließ er nun die Koͤnigstochter von der Aſche einnehmen und als ſie geſund war, verlangte er ſie, wie es verſprochen war, zur Gemahlin. Dem

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 2. Berlin, 1815, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1815/143>, abgerufen am 04.05.2024.