Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1837.102. Der Zaunkönig und der Bär. Zur Sommerszeit giengen einmal der Bär und der Wolf im Wald spazieren, da hörte der Bär so schönen Gesang von einem Vogel, und sprach 'Bruder Wolf, was ist das für ein Vogel, der so schön singt?' 'Das ist der König der Vögel,' sagte der Wolf, 'vor dem müssen wir uns neigen;' es war aber der Zaunkönig. 'Wenn das ist,' sagte der Bär, 'so möcht ich auch gerne seinen königlichen Palast sehen, komm und führe mich hin.' 'Das geht nicht so, wie du meinst,' sprach der Wolf, 'du mußt warten, bis die Frau Königin kommt.' Bald darauf kam die Frau Königin, und hatte Futter im Schnabel, und der Herr König auch, und wollten ihre Jungen ätzen. Der Bär wäre gerne nun gleich hinterdrein gegangen, aber der Wolf hielt ihn am Ermel, und sagte 'nein, du mußt warten bis Herr und Frau Königin wieder fort sind.' Also nahmen sie das Loch in Acht, wo das Nest stand, und giengen wieder ab. Der Bär aber hatte keine Ruhe, wollte den königlichen Palast sehen, und gieng nach einer kurzen Weile wieder vor. Da waren König und Königin wieder ausgeflogen, er guckte hinein, und sah fünf oder sechs Junge, die lagen darin. 'Jst das der königliche Palast!' rief der Bär, 'das 102. Der Zaunkoͤnig und der Baͤr. Zur Sommerszeit giengen einmal der Baͤr und der Wolf im Wald spazieren, da hoͤrte der Baͤr so schoͤnen Gesang von einem Vogel, und sprach ‘Bruder Wolf, was ist das fuͤr ein Vogel, der so schoͤn singt?’ ‘Das ist der Koͤnig der Voͤgel,’ sagte der Wolf, ‘vor dem muͤssen wir uns neigen;’ es war aber der Zaunkoͤnig. ‘Wenn das ist,’ sagte der Baͤr, ‘so moͤcht ich auch gerne seinen koͤniglichen Palast sehen, komm und fuͤhre mich hin.’ ‘Das geht nicht so, wie du meinst,’ sprach der Wolf, ‘du mußt warten, bis die Frau Koͤnigin kommt.’ Bald darauf kam die Frau Koͤnigin, und hatte Futter im Schnabel, und der Herr Koͤnig auch, und wollten ihre Jungen aͤtzen. Der Baͤr waͤre gerne nun gleich hinterdrein gegangen, aber der Wolf hielt ihn am Ermel, und sagte ‘nein, du mußt warten bis Herr und Frau Koͤnigin wieder fort sind.’ Also nahmen sie das Loch in Acht, wo das Nest stand, und giengen wieder ab. Der Baͤr aber hatte keine Ruhe, wollte den koͤniglichen Palast sehen, und gieng nach einer kurzen Weile wieder vor. Da waren Koͤnig und Koͤnigin wieder ausgeflogen, er guckte hinein, und sah fuͤnf oder sechs Junge, die lagen darin. ‘Jst das der koͤnigliche Palast!’ rief der Baͤr, ‘das <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0115" n="99"/> <div n="1"> <head> <hi rendition="#b">102.<lb/> Der Zaunkoͤnig und der Baͤr.</hi> </head><lb/> <p><hi rendition="#in">Z</hi>ur Sommerszeit giengen einmal der Baͤr und der Wolf im Wald spazieren, da hoͤrte der Baͤr so schoͤnen Gesang von einem Vogel, und sprach ‘Bruder Wolf, was ist das fuͤr ein Vogel, der so schoͤn singt?’ ‘Das ist der Koͤnig der Voͤgel,’ sagte der Wolf, ‘vor dem muͤssen wir uns neigen;’ es war aber der Zaunkoͤnig. ‘Wenn das ist,’ sagte der Baͤr, ‘so moͤcht ich auch gerne seinen koͤniglichen Palast sehen, komm und fuͤhre mich hin.’ ‘Das geht nicht so, wie du meinst,’ sprach der Wolf, ‘du mußt warten, bis die Frau Koͤnigin kommt.’ Bald darauf kam die Frau Koͤnigin, und hatte Futter im Schnabel, und der Herr Koͤnig auch, und wollten ihre Jungen aͤtzen. Der Baͤr waͤre gerne nun gleich hinterdrein gegangen, aber der Wolf hielt ihn am Ermel, und sagte ‘nein, du mußt warten bis Herr und Frau Koͤnigin wieder fort sind.’ Also nahmen sie das Loch in Acht, wo das Nest stand, und giengen wieder ab. Der Baͤr aber hatte keine Ruhe, wollte den koͤniglichen Palast sehen, und gieng nach einer kurzen Weile wieder vor. Da waren Koͤnig und Koͤnigin wieder ausgeflogen, er guckte hinein, und sah fuͤnf oder sechs Junge, die lagen darin. ‘Jst das der koͤnigliche Palast!’ rief der Baͤr, ‘das </p> </div> </body> </text> </TEI> [99/0115]
102.
Der Zaunkoͤnig und der Baͤr.
Zur Sommerszeit giengen einmal der Baͤr und der Wolf im Wald spazieren, da hoͤrte der Baͤr so schoͤnen Gesang von einem Vogel, und sprach ‘Bruder Wolf, was ist das fuͤr ein Vogel, der so schoͤn singt?’ ‘Das ist der Koͤnig der Voͤgel,’ sagte der Wolf, ‘vor dem muͤssen wir uns neigen;’ es war aber der Zaunkoͤnig. ‘Wenn das ist,’ sagte der Baͤr, ‘so moͤcht ich auch gerne seinen koͤniglichen Palast sehen, komm und fuͤhre mich hin.’ ‘Das geht nicht so, wie du meinst,’ sprach der Wolf, ‘du mußt warten, bis die Frau Koͤnigin kommt.’ Bald darauf kam die Frau Koͤnigin, und hatte Futter im Schnabel, und der Herr Koͤnig auch, und wollten ihre Jungen aͤtzen. Der Baͤr waͤre gerne nun gleich hinterdrein gegangen, aber der Wolf hielt ihn am Ermel, und sagte ‘nein, du mußt warten bis Herr und Frau Koͤnigin wieder fort sind.’ Also nahmen sie das Loch in Acht, wo das Nest stand, und giengen wieder ab. Der Baͤr aber hatte keine Ruhe, wollte den koͤniglichen Palast sehen, und gieng nach einer kurzen Weile wieder vor. Da waren Koͤnig und Koͤnigin wieder ausgeflogen, er guckte hinein, und sah fuͤnf oder sechs Junge, die lagen darin. ‘Jst das der koͤnigliche Palast!’ rief der Baͤr, ‘das
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Zitationshilfe: | Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1837, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1837/115>, abgerufen am 05.12.2023. |