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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 5. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1843.

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Er saß stolz auf seinem Pferd, und sah sie nicht an, aber als sie ihn ansah, so erkannte sie ihren Liebsten. Es war als ob ihr ein scharfes Messer in das Herz schnitt. 'Ach,' sagte sie, 'ich glaubte er wäre mir treu geblieben, aber er hat mich vergessen.'

Am andern Tag kam er wieder des Wegs. Als er in ihrer Nähe war, sprach sie zum Kälbchen,

'Kälbchen, Kälbchen, knie nieder,
vergiß nicht deine Hirtin wieder,
wie der Königssohn die Braut vergaß,
die unter der grünen Linde saß.'

Als er die Stimme vernahm, blickte er herab, und hielt sein Pferd an. Er schaute der Hirtin ins Gesicht, und es war als wollte er sich auf etwas besinnen, aber schnell ritt er weiter, und verschwand vor ihren Augen. 'Ach,' sagte sie, 'er kennt mich nicht mehr,' und ihre Trauer ward immer größer.

Bald darauf sollte an dem Hofe des Königs drei Tage lang ein großes Fest gefeiert werden, und das ganze Land ward dazu eingeladen. 'Nun will ich das Letzte versuchen' dachte das Mädchen, und als der Abend kam, gieng es zu dem Stein, unter dem es seine Schätze vergraben hatte. Sie holte das Kleid mit den goldnen Sonnen hervor, legte es an, und schmückte sich mit den Edelsteinen. Ihre Haare, die sie unter einem Tuch verborgen hatte, band sie auf, und sie fielen in langen Locken an ihr herab. So gieng sie, in der Dunkelheit von niemand bemerkt, nach der Stadt. Als sie in den hell erleuchteten Saal trat, wichen alle voll Verwunderung zurück, aber niemand wußte wer sie war. Der Königssohn

Er saß stolz auf seinem Pferd, und sah sie nicht an, aber als sie ihn ansah, so erkannte sie ihren Liebsten. Es war als ob ihr ein scharfes Messer in das Herz schnitt. ‘Ach,’ sagte sie, ‘ich glaubte er wäre mir treu geblieben, aber er hat mich vergessen.’

Am andern Tag kam er wieder des Wegs. Als er in ihrer Nähe war, sprach sie zum Kälbchen,

‘Kälbchen, Kälbchen, knie nieder,
vergiß nicht deine Hirtin wieder,
wie der Königssohn die Braut vergaß,
die unter der grünen Linde saß.’

Als er die Stimme vernahm, blickte er herab, und hielt sein Pferd an. Er schaute der Hirtin ins Gesicht, und es war als wollte er sich auf etwas besinnen, aber schnell ritt er weiter, und verschwand vor ihren Augen. ‘Ach,’ sagte sie, ‘er kennt mich nicht mehr,’ und ihre Trauer ward immer größer.

Bald darauf sollte an dem Hofe des Königs drei Tage lang ein großes Fest gefeiert werden, und das ganze Land ward dazu eingeladen. ‘Nun will ich das Letzte versuchen’ dachte das Mädchen, und als der Abend kam, gieng es zu dem Stein, unter dem es seine Schätze vergraben hatte. Sie holte das Kleid mit den goldnen Sonnen hervor, legte es an, und schmückte sich mit den Edelsteinen. Ihre Haare, die sie unter einem Tuch verborgen hatte, band sie auf, und sie fielen in langen Locken an ihr herab. So gieng sie, in der Dunkelheit von niemand bemerkt, nach der Stadt. Als sie in den hell erleuchteten Saal trat, wichen alle voll Verwunderung zurück, aber niemand wußte wer sie war. Der Königssohn

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[453/0463] Er saß stolz auf seinem Pferd, und sah sie nicht an, aber als sie ihn ansah, so erkannte sie ihren Liebsten. Es war als ob ihr ein scharfes Messer in das Herz schnitt. ‘Ach,’ sagte sie, ‘ich glaubte er wäre mir treu geblieben, aber er hat mich vergessen.’ Am andern Tag kam er wieder des Wegs. Als er in ihrer Nähe war, sprach sie zum Kälbchen, ‘Kälbchen, Kälbchen, knie nieder, vergiß nicht deine Hirtin wieder, wie der Königssohn die Braut vergaß, die unter der grünen Linde saß.’ Als er die Stimme vernahm, blickte er herab, und hielt sein Pferd an. Er schaute der Hirtin ins Gesicht, und es war als wollte er sich auf etwas besinnen, aber schnell ritt er weiter, und verschwand vor ihren Augen. ‘Ach,’ sagte sie, ‘er kennt mich nicht mehr,’ und ihre Trauer ward immer größer. Bald darauf sollte an dem Hofe des Königs drei Tage lang ein großes Fest gefeiert werden, und das ganze Land ward dazu eingeladen. ‘Nun will ich das Letzte versuchen’ dachte das Mädchen, und als der Abend kam, gieng es zu dem Stein, unter dem es seine Schätze vergraben hatte. Sie holte das Kleid mit den goldnen Sonnen hervor, legte es an, und schmückte sich mit den Edelsteinen. Ihre Haare, die sie unter einem Tuch verborgen hatte, band sie auf, und sie fielen in langen Locken an ihr herab. So gieng sie, in der Dunkelheit von niemand bemerkt, nach der Stadt. Als sie in den hell erleuchteten Saal trat, wichen alle voll Verwunderung zurück, aber niemand wußte wer sie war. Der Königssohn

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 5. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1843, S. 453. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1843/463>, abgerufen am 28.04.2024.