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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1857.

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werden.' Am folgenden Tag stellte er ihn an eine schwere Arbeit. Er sollte ein paar Bund Stroh zum Futter für die Pferde schneiden; dabei drohte der Mann, 'in fünf Stunden,' sprach er, 'bin ich wieder zurück, wenn dann das Stroh nicht zu Heksel geschnitten ist, so schlage ich dich so lange bis du kein Glied mehr regen kannst.' Der Bauer gieng mit seiner Frau dem Knecht und der Magd auf den Jahrmarkt und ließ dem Jungen nichts zurück als ein kleines Stück Brot. Der Junge stellte sich an den Strohstuhl und fieng an aus allen Leibeskräften zu arbeiten. Da ihm dabei heiß ward, so zog er sein Röcklein aus und warfs auf das Stroh. Jn der Angst nicht fertig zu werden schnitt er immer zu, und in seinem Eifer zerschnitt er unvermerkt mit dem Stroh auch sein Röcklein. Zu spät ward er das Unglück gewahr, das sich nicht wieder gut machen ließ. 'Ach,' rief er, 'jetzt ist es aus mit mir. Der böse Mann hat mir nicht umsonst gedroht, kommt er zurück und sieht was ich gethan habe, so schlägt er mich todt. Lieber will ich mir selbst das Leben nehmen.'

Der Junge hatte einmal gehört wie die Bäuerin sprach 'unter dem Bett habe ich einen Topf mit Gift stehen.' Sie hatte es aber nur gesagt, um die Näscher zurückzuhalten, denn es war Honig darin. Der Junge kroch unter das Bett, holte den Topf hervor und aß ihn ganz aus. 'Jch weiß nicht,' sprach er, 'die Leute sagen der Tod sei bitter, mir schmeckt er süß. Kein Wunder daß die Bäuerin sich so oft den Tod wünscht.' Er setzte sich auf ein Stühlchen und war gefaßt zu sterben. Aber statt daß er schwächer werden sollte, fühlte er sich von der nahrhaften Speise gestärkt. 'Es muß kein Gift gewesen sein,' sagte er, 'aber der Bauer hat einmal gesagt in seinem Kleiderkasten läge ein Fläschchen mit Fliegengift, das wird wohl das wahre Gift sein und mir den Tod bringen.' Es war aber kein Fliegengift, sondern Ungarwein. Der Junge holte die Flasche heraus und trank sie aus. 'Auch dieser

werden.’ Am folgenden Tag stellte er ihn an eine schwere Arbeit. Er sollte ein paar Bund Stroh zum Futter für die Pferde schneiden; dabei drohte der Mann, ‘in fünf Stunden,’ sprach er, ‘bin ich wieder zurück, wenn dann das Stroh nicht zu Heksel geschnitten ist, so schlage ich dich so lange bis du kein Glied mehr regen kannst.’ Der Bauer gieng mit seiner Frau dem Knecht und der Magd auf den Jahrmarkt und ließ dem Jungen nichts zurück als ein kleines Stück Brot. Der Junge stellte sich an den Strohstuhl und fieng an aus allen Leibeskräften zu arbeiten. Da ihm dabei heiß ward, so zog er sein Röcklein aus und warfs auf das Stroh. Jn der Angst nicht fertig zu werden schnitt er immer zu, und in seinem Eifer zerschnitt er unvermerkt mit dem Stroh auch sein Röcklein. Zu spät ward er das Unglück gewahr, das sich nicht wieder gut machen ließ. ‘Ach,’ rief er, ‘jetzt ist es aus mit mir. Der böse Mann hat mir nicht umsonst gedroht, kommt er zurück und sieht was ich gethan habe, so schlägt er mich todt. Lieber will ich mir selbst das Leben nehmen.’

Der Junge hatte einmal gehört wie die Bäuerin sprach ‘unter dem Bett habe ich einen Topf mit Gift stehen.’ Sie hatte es aber nur gesagt, um die Näscher zurückzuhalten, denn es war Honig darin. Der Junge kroch unter das Bett, holte den Topf hervor und aß ihn ganz aus. ‘Jch weiß nicht,’ sprach er, ‘die Leute sagen der Tod sei bitter, mir schmeckt er süß. Kein Wunder daß die Bäuerin sich so oft den Tod wünscht.’ Er setzte sich auf ein Stühlchen und war gefaßt zu sterben. Aber statt daß er schwächer werden sollte, fühlte er sich von der nahrhaften Speise gestärkt. ‘Es muß kein Gift gewesen sein,’ sagte er, ‘aber der Bauer hat einmal gesagt in seinem Kleiderkasten läge ein Fläschchen mit Fliegengift, das wird wohl das wahre Gift sein und mir den Tod bringen.’ Es war aber kein Fliegengift, sondern Ungarwein. Der Junge holte die Flasche heraus und trank sie aus. ‘Auch dieser

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1857, S. 393. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1857/405>, abgerufen am 30.04.2024.