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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1857.

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und als sie die Ursache von seinem Kummer erfuhr, sprach sie 'sei getrost, mein Kind, geh in das Gebüsch und lege dich schlafen, ich will deine Arbeit schon thun.' Als die Alte allein war, berührte sie nur den Teich: wie ein Dunst stieg das Wasser in die Höhe und vermischte sich mit den Wolken. Allmählig ward der Teich leer, und als das Mädchen vor Sonnenuntergang erwachte und herbeikam, so sah es nur noch die Fische, die in dem Schlamm zappelten. Es gieng zu der Stiefmutter und zeigte ihr an daß die Arbeit vollbracht wäre. 'Du hättest längst fertig sein sollen,' sagte sie und ward blaß vor Ärger, aber sie sann etwas Neues aus.

Am dritten Morgen sprach sie zu dem Mädchen 'dort in der Ebene mußt du mir ein schönes Schloß bauen und zum Abend muß es fertig sein.' Das Mädchen erschrack und sagte 'wie kann ich ein so großes Werk vollbringen?' 'Jch dulde keinen Widerspruch,' schrie die Stiefmutter, 'kannst du mit einem durchlöcherten Löffel einen Teich ausschöpfen, so kannst du auch ein Schloß bauen. Noch heute will ich es beziehen, und wenn etwas fehlt, sei es das geringste in Küche oder Keller, so weißt du was dir bevorsteht.' Sie trieb das Mädchen fort, und als es in das Thal kam, so lagen da die Felsen über einander aufgethürmt; mit aller seiner Kraft konnte es den kleinsten nicht einmal bewegen. Es setzte sich nieder und weinte, doch hoffte es auf den Beistand der guten Alten. Sie ließ auch nicht lange auf sich warten, kam und sprach ihm Trost ein, 'lege dich nur dort in den Schatten, und schlaf, ich will dir das Schloß schon bauen. Wenn es dir Freude macht, so kannst du selbst darin wohnen.' Als das Mädchen weggegangen war, rührte die Alte die grauen Felsen an. Alsbald regten sie sich, rückten zusammen und standen da, als hätten Riesen die Mauer gebaut: darauf erhob sich das Gebäude, und es war als ob unzählige Hände unsichtbar arbeiteten und Stein auf Stein legten. Der Boden dröhnte, große Seulen stiegen von selbst in die Höhe und

und als sie die Ursache von seinem Kummer erfuhr, sprach sie ‘sei getrost, mein Kind, geh in das Gebüsch und lege dich schlafen, ich will deine Arbeit schon thun.’ Als die Alte allein war, berührte sie nur den Teich: wie ein Dunst stieg das Wasser in die Höhe und vermischte sich mit den Wolken. Allmählig ward der Teich leer, und als das Mädchen vor Sonnenuntergang erwachte und herbeikam, so sah es nur noch die Fische, die in dem Schlamm zappelten. Es gieng zu der Stiefmutter und zeigte ihr an daß die Arbeit vollbracht wäre. ‘Du hättest längst fertig sein sollen,’ sagte sie und ward blaß vor Ärger, aber sie sann etwas Neues aus.

Am dritten Morgen sprach sie zu dem Mädchen ‘dort in der Ebene mußt du mir ein schönes Schloß bauen und zum Abend muß es fertig sein.’ Das Mädchen erschrack und sagte ‘wie kann ich ein so großes Werk vollbringen?’ ‘Jch dulde keinen Widerspruch,’ schrie die Stiefmutter, ‘kannst du mit einem durchlöcherten Löffel einen Teich ausschöpfen, so kannst du auch ein Schloß bauen. Noch heute will ich es beziehen, und wenn etwas fehlt, sei es das geringste in Küche oder Keller, so weißt du was dir bevorsteht.’ Sie trieb das Mädchen fort, und als es in das Thal kam, so lagen da die Felsen über einander aufgethürmt; mit aller seiner Kraft konnte es den kleinsten nicht einmal bewegen. Es setzte sich nieder und weinte, doch hoffte es auf den Beistand der guten Alten. Sie ließ auch nicht lange auf sich warten, kam und sprach ihm Trost ein, ‘lege dich nur dort in den Schatten, und schlaf, ich will dir das Schloß schon bauen. Wenn es dir Freude macht, so kannst du selbst darin wohnen.’ Als das Mädchen weggegangen war, rührte die Alte die grauen Felsen an. Alsbald regten sie sich, rückten zusammen und standen da, als hätten Riesen die Mauer gebaut: darauf erhob sich das Gebäude, und es war als ob unzählige Hände unsichtbar arbeiteten und Stein auf Stein legten. Der Boden dröhnte, große Seulen stiegen von selbst in die Höhe und

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1857, S. 397. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1857/409>, abgerufen am 28.04.2024.