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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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S. 109. Z. 19. Die einfache, bedeutende Schönheit der alten
Tönenamen stimmt ausnehmend in die Unschuld und Rein-
heit der Minnelieder. Unsere neuen Dichter sind den golde-
nen und blauen Ton, die gekrönte, die zarte und süße Ge-
sangweis zu singen verlustig geworden, und müssen sich nun
auch zu ihren Ueberschriften die fremden Namen Hexame-
ter, Distich, Sonett, Triolett oder Madrigal behaben, welche
Strafe noch leidlicher ist, als die sich selbst auferlegte, schon
lang versungene Herrlichkeit alter Weise kalt nachmessen zu
wollen. Sonst könnte die Rubrik eines langen Maien-
scheins, kurzen oder langen Regenbogens von oben herein
auf das ganze Lied eigenthümliche Beleuchtung werfen.
Uebrigens fallen einem bei jenen Namen einmal die königli-
chen der Scaldenweisen, dann mancher Volkslieder, selbst
engländischer ein (to the tune of black and yellow. Percy
1. B. 2. n. X.) und das Ganze erinnert gewiß an die ge-
heime Verwandtschaft zwischen Tönen und Farben überhaupt.
S. 111. Anmerk. 97. Hierher auch die Künstlichkeit, Anfangs
der neuen Strophe den Ausgang der vorigen wieder aufzu-
nehmen, reimlich oder selbst wörtlich, was so häufig in
Volksliedern, besonders dänischen. S. bei Rudolf von
Neuenburg Th. 1. S. 8. 9. und bei Rudolf von Rotenburg
1. 34. (vierstrophisches Lied: ich will in miner etc.) Bei
Wizlau ist es mir besonders noch aufgefallen.
S. 111. Z. 14. Daß die Meister von einander Wendungen
besonders zum Eingang borgen, ohne sich an den Ton zu
binden, wäre leicht zu belegen. Ein Beispiel steht schon
S. 152. oben. Walters Lied 1. 102: "ich sas uf einem
steine" etc. muß dem Boppo vorgeschwebt haben, als er 2.
235: "ich sas uf einer grüne" etc. dichtete (im grünen Ton
Frauenlobs.)

S. 109. Z. 19. Die einfache, bedeutende Schoͤnheit der alten
Toͤnenamen ſtimmt ausnehmend in die Unſchuld und Rein-
heit der Minnelieder. Unſere neuen Dichter ſind den golde-
nen und blauen Ton, die gekroͤnte, die zarte und ſuͤße Ge-
ſangweis zu ſingen verluſtig geworden, und muͤſſen ſich nun
auch zu ihren Ueberſchriften die fremden Namen Hexame-
ter, Diſtich, Sonett, Triolett oder Madrigal behaben, welche
Strafe noch leidlicher iſt, als die ſich ſelbſt auferlegte, ſchon
lang verſungene Herrlichkeit alter Weiſe kalt nachmeſſen zu
wollen. Sonſt koͤnnte die Rubrik eines langen Maien-
ſcheins, kurzen oder langen Regenbogens von oben herein
auf das ganze Lied eigenthuͤmliche Beleuchtung werfen.
Uebrigens fallen einem bei jenen Namen einmal die koͤnigli-
chen der Scaldenweiſen, dann mancher Volkslieder, ſelbſt
englaͤndiſcher ein (to the tune of black and yellow. Percy
1. B. 2. n. X.) und das Ganze erinnert gewiß an die ge-
heime Verwandtſchaft zwiſchen Toͤnen und Farben uͤberhaupt.
S. 111. Anmerk. 97. Hierher auch die Kuͤnſtlichkeit, Anfangs
der neuen Strophe den Ausgang der vorigen wieder aufzu-
nehmen, reimlich oder ſelbſt woͤrtlich, was ſo haͤufig in
Volksliedern, beſonders daͤniſchen. S. bei Rudolf von
Neuenburg Th. 1. S. 8. 9. und bei Rudolf von Rotenburg
1. 34. (vierſtrophiſches Lied: ich will in miner ꝛc.) Bei
Wizlau iſt es mir beſonders noch aufgefallen.
S. 111. Z. 14. Daß die Meiſter von einander Wendungen
beſonders zum Eingang borgen, ohne ſich an den Ton zu
binden, waͤre leicht zu belegen. Ein Beiſpiel ſteht ſchon
S. 152. oben. Walters Lied 1. 102: „ich ſas uf einem
ſteine“ ꝛc. muß dem Boppo vorgeſchwebt haben, als er 2.
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Frauenlobs.)

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[183/0193] S. 109. Z. 19. Die einfache, bedeutende Schoͤnheit der alten Toͤnenamen ſtimmt ausnehmend in die Unſchuld und Rein- heit der Minnelieder. Unſere neuen Dichter ſind den golde- nen und blauen Ton, die gekroͤnte, die zarte und ſuͤße Ge- ſangweis zu ſingen verluſtig geworden, und muͤſſen ſich nun auch zu ihren Ueberſchriften die fremden Namen Hexame- ter, Diſtich, Sonett, Triolett oder Madrigal behaben, welche Strafe noch leidlicher iſt, als die ſich ſelbſt auferlegte, ſchon lang verſungene Herrlichkeit alter Weiſe kalt nachmeſſen zu wollen. Sonſt koͤnnte die Rubrik eines langen Maien- ſcheins, kurzen oder langen Regenbogens von oben herein auf das ganze Lied eigenthuͤmliche Beleuchtung werfen. Uebrigens fallen einem bei jenen Namen einmal die koͤnigli- chen der Scaldenweiſen, dann mancher Volkslieder, ſelbſt englaͤndiſcher ein (to the tune of black and yellow. Percy 1. B. 2. n. X.) und das Ganze erinnert gewiß an die ge- heime Verwandtſchaft zwiſchen Toͤnen und Farben uͤberhaupt. S. 111. Anmerk. 97. Hierher auch die Kuͤnſtlichkeit, Anfangs der neuen Strophe den Ausgang der vorigen wieder aufzu- nehmen, reimlich oder ſelbſt woͤrtlich, was ſo haͤufig in Volksliedern, beſonders daͤniſchen. S. bei Rudolf von Neuenburg Th. 1. S. 8. 9. und bei Rudolf von Rotenburg 1. 34. (vierſtrophiſches Lied: ich will in miner ꝛc.) Bei Wizlau iſt es mir beſonders noch aufgefallen. S. 111. Z. 14. Daß die Meiſter von einander Wendungen beſonders zum Eingang borgen, ohne ſich an den Ton zu binden, waͤre leicht zu belegen. Ein Beiſpiel ſteht ſchon S. 152. oben. Walters Lied 1. 102: „ich ſas uf einem ſteine“ ꝛc. muß dem Boppo vorgeſchwebt haben, als er 2. 235: “ich ſas uf einer gruͤne“ ꝛc. dichtete (im gruͤnen Ton Frauenlobs.)

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/193>, abgerufen am 04.05.2024.