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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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Handschriften des Titurels, sondern in der vortrefflichen ma-
neßischen Sammlung bei Otto v. Turne 40 a) aufzusuchen.
Ich bin danach überzeugt, daß der ganze Ton aus 60 Silben
besteht, nämlich die drei ersten Zeilen jede aus 7, die sechste
auch aus 7, die vierte, fünfte und siebente aber aus 11 Silben.
Mithin fallen davon auf den ersten Stoll 14, auf den zweiten
17, auf den Abgesang 29 41). Zur Entschuldigung dieser Un-
gleichheit ließe sich allerdings sagen, daß die ersten Zeilen je-
des Stollen regelmäßig und gleich sind, und da der Schluß
des zweiten um drei Silben länger, der erste vollständig darin
enthalten, das weiter Folgende ein bloßer Anhang ist, wie
denn schon oben erwähnt, daß die Natur alles Gesangs gern
mit sich bringe, auf dem Schluß eines Abschnitts länger zu
weilen.

Glücklicherweise findet sich aber über die ganze Anomalie
ein befriedigender historischer Aufschluß. Wolfram gedenkt
einer früheren, ein halb Jahrhundert älteren Bearbeitung der-
selben Geschichte, diese hat sich in einer Münchener Hand-
schrift erhalten. Herr Docen ist so gütig gewesen, mir einen
Theil des in aller Rücksicht vortrefflichen alten Gedichts mit-
zutheilen 41 a). Was auf den ersten Blick erhellt, ist, daß es

40 a) Damit stimmen auch die seitdem bekannt gemachten Frag-
mente einer guten Regensburger H. S. des Titurel überein.
41) Es ist nämlich ganz gewiß, daß schon frühe Meister die Silben
ihrer Lieder nachgemessen. Wolfram spricht ausdrücklich vom
Messen dieses Tons, und man sehe die große Regelmäßigkeit
vieler anderer in dem Stück.
Marner hat die Silben am Finger, nach Rumelant
CCCXIII. Herman Damen (XI.) von gemessenem, ebenem
Gesang. Hingegen in manchen alten Liedern ist noch die Frei-
heit der Volkspoesie, wo es auf einige Silben mehr oder we-
niger gar nicht ankommt.
41 a) Er hat es nunmehr drucken lassen, und entwickelt die neue
aus der alten Form auf eine ähnliche Weise. Berücksichtigung
verdient die interessante Bemerkung, daß einige Zeilen der alten

Handſchriften des Titurels, ſondern in der vortrefflichen ma-
neßiſchen Sammlung bei Otto v. Turne 40 a) aufzuſuchen.
Ich bin danach uͤberzeugt, daß der ganze Ton aus 60 Silben
beſteht, naͤmlich die drei erſten Zeilen jede aus 7, die ſechste
auch aus 7, die vierte, fuͤnfte und ſiebente aber aus 11 Silben.
Mithin fallen davon auf den erſten Stoll 14, auf den zweiten
17, auf den Abgeſang 29 41). Zur Entſchuldigung dieſer Un-
gleichheit ließe ſich allerdings ſagen, daß die erſten Zeilen je-
des Stollen regelmaͤßig und gleich ſind, und da der Schluß
des zweiten um drei Silben laͤnger, der erſte vollſtaͤndig darin
enthalten, das weiter Folgende ein bloßer Anhang iſt, wie
denn ſchon oben erwaͤhnt, daß die Natur alles Geſangs gern
mit ſich bringe, auf dem Schluß eines Abſchnitts laͤnger zu
weilen.

Gluͤcklicherweiſe findet ſich aber uͤber die ganze Anomalie
ein befriedigender hiſtoriſcher Aufſchluß. Wolfram gedenkt
einer fruͤheren, ein halb Jahrhundert aͤlteren Bearbeitung der-
ſelben Geſchichte, dieſe hat ſich in einer Muͤnchener Hand-
ſchrift erhalten. Herr Docen iſt ſo guͤtig geweſen, mir einen
Theil des in aller Ruͤckſicht vortrefflichen alten Gedichts mit-
zutheilen 41 a). Was auf den erſten Blick erhellt, iſt, daß es

40 a) Damit ſtimmen auch die ſeitdem bekannt gemachten Frag-
mente einer guten Regensburger H. S. des Titurel uͤberein.
41) Es iſt naͤmlich ganz gewiß, daß ſchon fruͤhe Meiſter die Silben
ihrer Lieder nachgemeſſen. Wolfram ſpricht ausdruͤcklich vom
Meſſen dieſes Tons, und man ſehe die große Regelmaͤßigkeit
vieler anderer in dem Stuͤck.
Marner hat die Silben am Finger, nach Rumelant
CCCXIII. Herman Damen (XI.) von gemeſſenem, ebenem
Geſang. Hingegen in manchen alten Liedern iſt noch die Frei-
heit der Volkspoeſie, wo es auf einige Silben mehr oder we-
niger gar nicht ankommt.
41 a) Er hat es nunmehr drucken laſſen, und entwickelt die neue
aus der alten Form auf eine aͤhnliche Weiſe. Beruͤckſichtigung
verdient die intereſſante Bemerkung, daß einige Zeilen der alten
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[59/0069] Handſchriften des Titurels, ſondern in der vortrefflichen ma- neßiſchen Sammlung bei Otto v. Turne 40 a) aufzuſuchen. Ich bin danach uͤberzeugt, daß der ganze Ton aus 60 Silben beſteht, naͤmlich die drei erſten Zeilen jede aus 7, die ſechste auch aus 7, die vierte, fuͤnfte und ſiebente aber aus 11 Silben. Mithin fallen davon auf den erſten Stoll 14, auf den zweiten 17, auf den Abgeſang 29 41). Zur Entſchuldigung dieſer Un- gleichheit ließe ſich allerdings ſagen, daß die erſten Zeilen je- des Stollen regelmaͤßig und gleich ſind, und da der Schluß des zweiten um drei Silben laͤnger, der erſte vollſtaͤndig darin enthalten, das weiter Folgende ein bloßer Anhang iſt, wie denn ſchon oben erwaͤhnt, daß die Natur alles Geſangs gern mit ſich bringe, auf dem Schluß eines Abſchnitts laͤnger zu weilen. Gluͤcklicherweiſe findet ſich aber uͤber die ganze Anomalie ein befriedigender hiſtoriſcher Aufſchluß. Wolfram gedenkt einer fruͤheren, ein halb Jahrhundert aͤlteren Bearbeitung der- ſelben Geſchichte, dieſe hat ſich in einer Muͤnchener Hand- ſchrift erhalten. Herr Docen iſt ſo guͤtig geweſen, mir einen Theil des in aller Ruͤckſicht vortrefflichen alten Gedichts mit- zutheilen 41 a). Was auf den erſten Blick erhellt, iſt, daß es 40 a) Damit ſtimmen auch die ſeitdem bekannt gemachten Frag- mente einer guten Regensburger H. S. des Titurel uͤberein. 41) Es iſt naͤmlich ganz gewiß, daß ſchon fruͤhe Meiſter die Silben ihrer Lieder nachgemeſſen. Wolfram ſpricht ausdruͤcklich vom Meſſen dieſes Tons, und man ſehe die große Regelmaͤßigkeit vieler anderer in dem Stuͤck. Marner hat die Silben am Finger, nach Rumelant CCCXIII. Herman Damen (XI.) von gemeſſenem, ebenem Geſang. Hingegen in manchen alten Liedern iſt noch die Frei- heit der Volkspoeſie, wo es auf einige Silben mehr oder we- niger gar nicht ankommt. 41 a) Er hat es nunmehr drucken laſſen, und entwickelt die neue aus der alten Form auf eine aͤhnliche Weiſe. Beruͤckſichtigung verdient die intereſſante Bemerkung, daß einige Zeilen der alten

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/69>, abgerufen am 26.04.2024.