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Grimm, Albert Ludwig: Die malerischen und romantischen Stellen des Odenwaldes. Darmstadt, 1843.

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"Warum misshandelt ihr mich also?" fragte er sie. "So? du fragst noch?" war die Antwort. "Hast du doch deinen Ankläger, den Sack mit dem gestohlenen Gute, selbst auf dem Rücken getragen! Du musst hängen!" Unter diesen und ähnlichen Vorwürfen und Drohungen ward der Knabe Joseph vor den Richter der Stadt gebracht. Hier sprach er: "Ich bin unschuldig. Ich erkenne nun aber, dass man mich für schuldig halten muss. Der Schuldige hat sich indessen gerettet, und mich mit seinem Sacke in den Verdacht gebracht. Ich bin aber bereit, meine Unschuld durch ein Gottesurtheil zu beweisen."

"Es sei!" sprach der Richter. Man bringt das glühende Eisen, und unversehrt wandelt der Beklagte langsamen Schrittes darüber hin. Der Richter und die Ankläger sehens mit Staunen. "Unschuldig!" ruft der Richter. Und nun erzählte Joseph, auf welche Weise er zu dem Sacke gekommen. Dabei beschreibt er den Dieb so genau, dass man in ihm einen Einwohner derselben Stadt erkennt. Der Richter schickt nach ihm. Er war inzwischen auf Nebenwegen nach Hause gekommen. Man ergreift ihn, in der Ueberraschung gesteht er sogleich im Verhöre, und muss nun am Galgen sein Vergehen mit dem Leben büssen.

Als Joseph aber darauf von dannen ziehen will, umringen ihn an einsamer Stelle die Verwandten und Diebsgenossen des Gehängten. "Du bist Schuld an seinem Tode! Du hast unsern Meister verrathen! Dein Tod soll ihn rächen." Mit diesen Worten ergreifen sie ihn, und hängen ihn an dem nächsten Baume auf. Aber die Furcht, dass man sie als Mörder ergreifen möchte, zerstreute sie.

Da kamen einige Hirten zufällig in die Nähe; sie sehen ihn und schneiden ihn los. Da aber der arme Knabe kein Lebenszeichen mehr von sich gibt, schicken sie sich an, ihn zu begraben. Indem sie aber noch an seinem Grabe arbeiteten - siehe, da sprengt über den nahen Hügel daher ein Reiter auf schneeweissem Ross. Auch der Reiter ist weiss, und Lichtglanz umfliesst ihn. Aber die Hirten, die Nähe eines höhern Wesens ahnend, werfen sich demüthig zur Erde nieder und beten: "Herr, Herr, erbarme dich unser." Der lichtglänzende Reiter sprengt auf sie zu, neigt sich von seinem weissen Rosse hernieder, erfasst die Leiche in seine Arme, und verschwindet jenseits im Fluge wieder.

„Warum misshandelt ihr mich also?“ fragte er sie. „So? du fragst noch?“ war die Antwort. „Hast du doch deinen Ankläger, den Sack mit dem gestohlenen Gute, selbst auf dem Rücken getragen! Du musst hängen!“ Unter diesen und ähnlichen Vorwürfen und Drohungen ward der Knabe Joseph vor den Richter der Stadt gebracht. Hier sprach er: „Ich bin unschuldig. Ich erkenne nun aber, dass man mich für schuldig halten muss. Der Schuldige hat sich indessen gerettet, und mich mit seinem Sacke in den Verdacht gebracht. Ich bin aber bereit, meine Unschuld durch ein Gottesurtheil zu beweisen.“

„Es sei!“ sprach der Richter. Man bringt das glühende Eisen, und unversehrt wandelt der Beklagte langsamen Schrittes darüber hin. Der Richter und die Ankläger sehens mit Staunen. „Unschuldig!“ ruft der Richter. Und nun erzählte Joseph, auf welche Weise er zu dem Sacke gekommen. Dabei beschreibt er den Dieb so genau, dass man in ihm einen Einwohner derselben Stadt erkennt. Der Richter schickt nach ihm. Er war inzwischen auf Nebenwegen nach Hause gekommen. Man ergreift ihn, in der Ueberraschung gesteht er sogleich im Verhöre, und muss nun am Galgen sein Vergehen mit dem Leben büssen.

Als Joseph aber darauf von dannen ziehen will, umringen ihn an einsamer Stelle die Verwandten und Diebsgenossen des Gehängten. „Du bist Schuld an seinem Tode! Du hast unsern Meister verrathen! Dein Tod soll ihn rächen.“ Mit diesen Worten ergreifen sie ihn, und hängen ihn an dem nächsten Baume auf. Aber die Furcht, dass man sie als Mörder ergreifen möchte, zerstreute sie.

Da kamen einige Hirten zufällig in die Nähe; sie sehen ihn und schneiden ihn los. Da aber der arme Knabe kein Lebenszeichen mehr von sich gibt, schicken sie sich an, ihn zu begraben. Indem sie aber noch an seinem Grabe arbeiteten – siehe, da sprengt über den nahen Hügel daher ein Reiter auf schneeweissem Ross. Auch der Reiter ist weiss, und Lichtglanz umfliesst ihn. Aber die Hirten, die Nähe eines höhern Wesens ahnend, werfen sich demüthig zur Erde nieder und beten: „Herr, Herr, erbarme dich unser.“ Der lichtglänzende Reiter sprengt auf sie zu, neigt sich von seinem weissen Rosse hernieder, erfasst die Leiche in seine Arme, und verschwindet jenseits im Fluge wieder.

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            <p>Als Joseph aber darauf von dannen ziehen will, umringen ihn an einsamer Stelle die Verwandten und Diebsgenossen des Gehängten. &#x201E;Du bist Schuld an seinem Tode! Du hast unsern Meister verrathen! Dein Tod soll ihn rächen.&#x201C; Mit diesen Worten ergreifen sie ihn, und hängen ihn an dem nächsten Baume auf. Aber die Furcht, dass man sie als Mörder ergreifen möchte, zerstreute sie.</p>
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[64/0064] „Warum misshandelt ihr mich also?“ fragte er sie. „So? du fragst noch?“ war die Antwort. „Hast du doch deinen Ankläger, den Sack mit dem gestohlenen Gute, selbst auf dem Rücken getragen! Du musst hängen!“ Unter diesen und ähnlichen Vorwürfen und Drohungen ward der Knabe Joseph vor den Richter der Stadt gebracht. Hier sprach er: „Ich bin unschuldig. Ich erkenne nun aber, dass man mich für schuldig halten muss. Der Schuldige hat sich indessen gerettet, und mich mit seinem Sacke in den Verdacht gebracht. Ich bin aber bereit, meine Unschuld durch ein Gottesurtheil zu beweisen.“ „Es sei!“ sprach der Richter. Man bringt das glühende Eisen, und unversehrt wandelt der Beklagte langsamen Schrittes darüber hin. Der Richter und die Ankläger sehens mit Staunen. „Unschuldig!“ ruft der Richter. Und nun erzählte Joseph, auf welche Weise er zu dem Sacke gekommen. Dabei beschreibt er den Dieb so genau, dass man in ihm einen Einwohner derselben Stadt erkennt. Der Richter schickt nach ihm. Er war inzwischen auf Nebenwegen nach Hause gekommen. Man ergreift ihn, in der Ueberraschung gesteht er sogleich im Verhöre, und muss nun am Galgen sein Vergehen mit dem Leben büssen. Als Joseph aber darauf von dannen ziehen will, umringen ihn an einsamer Stelle die Verwandten und Diebsgenossen des Gehängten. „Du bist Schuld an seinem Tode! Du hast unsern Meister verrathen! Dein Tod soll ihn rächen.“ Mit diesen Worten ergreifen sie ihn, und hängen ihn an dem nächsten Baume auf. Aber die Furcht, dass man sie als Mörder ergreifen möchte, zerstreute sie. Da kamen einige Hirten zufällig in die Nähe; sie sehen ihn und schneiden ihn los. Da aber der arme Knabe kein Lebenszeichen mehr von sich gibt, schicken sie sich an, ihn zu begraben. Indem sie aber noch an seinem Grabe arbeiteten – siehe, da sprengt über den nahen Hügel daher ein Reiter auf schneeweissem Ross. Auch der Reiter ist weiss, und Lichtglanz umfliesst ihn. Aber die Hirten, die Nähe eines höhern Wesens ahnend, werfen sich demüthig zur Erde nieder und beten: „Herr, Herr, erbarme dich unser.“ Der lichtglänzende Reiter sprengt auf sie zu, neigt sich von seinem weissen Rosse hernieder, erfasst die Leiche in seine Arme, und verschwindet jenseits im Fluge wieder.

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Zitationshilfe: Grimm, Albert Ludwig: Die malerischen und romantischen Stellen des Odenwaldes. Darmstadt, 1843, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_odenwald_1843/64>, abgerufen am 03.05.2024.