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Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Dabei nickte sie oft bedeutsam vor sich hin, als wenn sie nun Alles hinlänglich reif bedacht hätte.

So verging eine Woche, auch die zweite verfloß, und es kam wieder ein Sonntagnachmittag, wo die Frau Conrectorin abermals in dem Gartenhäuschen saß und an einer alten Börse häkelte. In einem Kästchen vor ihr lagen himmelblaue und weiße Perlen, Schmelz und perlgraue nebst grüner Seide. -- Die Börse aber, welche ein Vergißmeinnicht auf grauem Grunde zeigte nebst schweren Quasten aus Schmelz, war offenbar eine alte Liebesgabe aus verschollenen Tagen -- eine Gabe, welche einst nicht fertig geworden, nicht weggeschenkt worden war. Ihre Hornbrille hatte die Frau Conrectorin wie gewöhnlich auf der Nase; in einer altmodischen Porzellankanne, welche auf einem Rechaud stand, dampfte Chokolade.

Eine lange Stunde schon hatte die Frau Conrectorin gehäkelt, und sie überlegte eben, ob sie nicht doch lieber die Arbeit enden solle, als plötzlich ein Schritt auf der Brücke klang, der ihr bekannt vorkam.

Zwei Minuten später öffnete sich die Thür des Gartenhäuschens nach schüchternem Anklopfen, und als die Frau Conrectorin aufblickte, sah sie den Vetter, aber in einem Aufzuge, daß sie fast erschrak. Müd, abgespannt und bestaubt machte er einen Eindruck der Verkommenheit und Verwitterung, als wenn er einen ganzen Sommer hindurch auf der Landstraße gelegen und halbverhungert auf der Wanderung durch alle Länder Europa's sich hätte von Thür zu Thür durchbetteln

Dabei nickte sie oft bedeutsam vor sich hin, als wenn sie nun Alles hinlänglich reif bedacht hätte.

So verging eine Woche, auch die zweite verfloß, und es kam wieder ein Sonntagnachmittag, wo die Frau Conrectorin abermals in dem Gartenhäuschen saß und an einer alten Börse häkelte. In einem Kästchen vor ihr lagen himmelblaue und weiße Perlen, Schmelz und perlgraue nebst grüner Seide. — Die Börse aber, welche ein Vergißmeinnicht auf grauem Grunde zeigte nebst schweren Quasten aus Schmelz, war offenbar eine alte Liebesgabe aus verschollenen Tagen — eine Gabe, welche einst nicht fertig geworden, nicht weggeschenkt worden war. Ihre Hornbrille hatte die Frau Conrectorin wie gewöhnlich auf der Nase; in einer altmodischen Porzellankanne, welche auf einem Rechaud stand, dampfte Chokolade.

Eine lange Stunde schon hatte die Frau Conrectorin gehäkelt, und sie überlegte eben, ob sie nicht doch lieber die Arbeit enden solle, als plötzlich ein Schritt auf der Brücke klang, der ihr bekannt vorkam.

Zwei Minuten später öffnete sich die Thür des Gartenhäuschens nach schüchternem Anklopfen, und als die Frau Conrectorin aufblickte, sah sie den Vetter, aber in einem Aufzuge, daß sie fast erschrak. Müd, abgespannt und bestaubt machte er einen Eindruck der Verkommenheit und Verwitterung, als wenn er einen ganzen Sommer hindurch auf der Landstraße gelegen und halbverhungert auf der Wanderung durch alle Länder Europa's sich hätte von Thür zu Thür durchbetteln

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[0116] Dabei nickte sie oft bedeutsam vor sich hin, als wenn sie nun Alles hinlänglich reif bedacht hätte. So verging eine Woche, auch die zweite verfloß, und es kam wieder ein Sonntagnachmittag, wo die Frau Conrectorin abermals in dem Gartenhäuschen saß und an einer alten Börse häkelte. In einem Kästchen vor ihr lagen himmelblaue und weiße Perlen, Schmelz und perlgraue nebst grüner Seide. — Die Börse aber, welche ein Vergißmeinnicht auf grauem Grunde zeigte nebst schweren Quasten aus Schmelz, war offenbar eine alte Liebesgabe aus verschollenen Tagen — eine Gabe, welche einst nicht fertig geworden, nicht weggeschenkt worden war. Ihre Hornbrille hatte die Frau Conrectorin wie gewöhnlich auf der Nase; in einer altmodischen Porzellankanne, welche auf einem Rechaud stand, dampfte Chokolade. Eine lange Stunde schon hatte die Frau Conrectorin gehäkelt, und sie überlegte eben, ob sie nicht doch lieber die Arbeit enden solle, als plötzlich ein Schritt auf der Brücke klang, der ihr bekannt vorkam. Zwei Minuten später öffnete sich die Thür des Gartenhäuschens nach schüchternem Anklopfen, und als die Frau Conrectorin aufblickte, sah sie den Vetter, aber in einem Aufzuge, daß sie fast erschrak. Müd, abgespannt und bestaubt machte er einen Eindruck der Verkommenheit und Verwitterung, als wenn er einen ganzen Sommer hindurch auf der Landstraße gelegen und halbverhungert auf der Wanderung durch alle Länder Europa's sich hätte von Thür zu Thür durchbetteln

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T10:31:15Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T10:31:15Z)

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Zitationshilfe: Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grosse_isidor_1910/116>, abgerufen am 03.05.2024.