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Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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vorsichtige Person, die alle Welt für blind ansieht. O, ich lasse mir kein X für ein U vormachen, ich habe ihr den lahmen Joseph nachgeschickt, und der hat Alles gesehen, Alles, Vetterchen. Nein, daß ich das an ihr erleben muß! Und was sagen Sie denn dazu, Vetter? Sie sind ja auf einmal ganz still geworden?

Auf Vetter Isidor's Antlitz hatte während dessen ein merkwürdiger Mienenwechsel stattgefunden. Der Ausdruck der Entrüstung war erst in den des Staunens und Verblüfftseins, dann des Spottes, endlich der völligen Ruhe übergegangen.

In den Stadtpark geht sie? sagte er phlegmatisch langsam; nun, wenn es weiter nichts ist --!

Wenn es weiter nichts ist, Vetterchen? Ich weiß nicht, wie Sie mir vorkommen!

Man kann ja nicht wissen, wen sie dort spricht, sagte er mit unverwüstlicher Ruhe; es kann ja ein ordentlicher Mensch sein.

Ja wohl, "ordentlicher Mensch"! rief die Conrectorin in voller Empörung. Ich habe mich auch darnach erkundigt. Ein Wüstling soll es sein, ein frecher Mädchenjäger, ein Mensch voll Schulden und vom allerschlechtesten Ruf -- aber so sind die Weiber -- ja leider muß ich's selbst sagen -- statt sich einen ehrbaren, discreten, soliden Anbeter zu wählen, werfen sie sich dem ersten, besten Abenteurer an den Hals, und ein Patron, der mit allen sieben Todsünden gezeichnet ist, der ist ihnen dann der interessanteste -- das nennen sie dann romantisch

vorsichtige Person, die alle Welt für blind ansieht. O, ich lasse mir kein X für ein U vormachen, ich habe ihr den lahmen Joseph nachgeschickt, und der hat Alles gesehen, Alles, Vetterchen. Nein, daß ich das an ihr erleben muß! Und was sagen Sie denn dazu, Vetter? Sie sind ja auf einmal ganz still geworden?

Auf Vetter Isidor's Antlitz hatte während dessen ein merkwürdiger Mienenwechsel stattgefunden. Der Ausdruck der Entrüstung war erst in den des Staunens und Verblüfftseins, dann des Spottes, endlich der völligen Ruhe übergegangen.

In den Stadtpark geht sie? sagte er phlegmatisch langsam; nun, wenn es weiter nichts ist —!

Wenn es weiter nichts ist, Vetterchen? Ich weiß nicht, wie Sie mir vorkommen!

Man kann ja nicht wissen, wen sie dort spricht, sagte er mit unverwüstlicher Ruhe; es kann ja ein ordentlicher Mensch sein.

Ja wohl, „ordentlicher Mensch“! rief die Conrectorin in voller Empörung. Ich habe mich auch darnach erkundigt. Ein Wüstling soll es sein, ein frecher Mädchenjäger, ein Mensch voll Schulden und vom allerschlechtesten Ruf — aber so sind die Weiber — ja leider muß ich's selbst sagen — statt sich einen ehrbaren, discreten, soliden Anbeter zu wählen, werfen sie sich dem ersten, besten Abenteurer an den Hals, und ein Patron, der mit allen sieben Todsünden gezeichnet ist, der ist ihnen dann der interessanteste — das nennen sie dann romantisch

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T10:31:15Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T10:31:15Z)

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Zitationshilfe: Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grosse_isidor_1910/47>, abgerufen am 26.04.2024.