kommen combiniren, sondern revolutionär. Die poetische Wahrheit offenbart sich nur dem Ge¬ nius. Dieser lauscht niedergestreckt auf den Boden der Wirklichkeit, und hört wie in den innersten Getrieben der Gemüther eine em¬ bryonische Welt mit keimendem Bewußtsein wächst. Wer auf seine Entwickelung lauscht, muß sich oft gestehen, daß ganze Gedichte in ihm sich zusammenreimen aus Motiven, welche die Außenwelt niemals anerkennen würde. Dies sollte nicht auch Wahrheit sein? Dies sollte den Dichter nicht entzücken? Die Alten und die Mittleren schufen in dieser Weise nicht: aber die Modernen werden es. Ihre Histo¬ rien sind nicht die Sage oder Geschichte, son¬ dern die Ideen, die im Schooße der still wir¬ kenden und schaffenden Gottheit schlummern. Die Welt, wie sie ist, wird ihren Gebilden nicht entsprechen; diese werden dem nüchternen Vorwurfe der Unwahrheit und Unwahrschein¬
21 *
kommen combiniren, ſondern revolutionär. Die poetiſche Wahrheit offenbart ſich nur dem Ge¬ nius. Dieſer lauſcht niedergeſtreckt auf den Boden der Wirklichkeit, und hört wie in den innerſten Getrieben der Gemüther eine em¬ bryoniſche Welt mit keimendem Bewußtſein wächſt. Wer auf ſeine Entwickelung lauſcht, muß ſich oft geſtehen, daß ganze Gedichte in ihm ſich zuſammenreimen aus Motiven, welche die Außenwelt niemals anerkennen würde. Dies ſollte nicht auch Wahrheit ſein? Dies ſollte den Dichter nicht entzücken? Die Alten und die Mittleren ſchufen in dieſer Weiſe nicht: aber die Modernen werden es. Ihre Hiſto¬ rien ſind nicht die Sage oder Geſchichte, ſon¬ dern die Ideen, die im Schooße der ſtill wir¬ kenden und ſchaffenden Gottheit ſchlummern. Die Welt, wie ſie iſt, wird ihren Gebilden nicht entſprechen; dieſe werden dem nüchternen Vorwurfe der Unwahrheit und Unwahrſchein¬
21 *
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0332"n="323"/>
kommen combiniren, ſondern revolutionär. Die<lb/>
poetiſche Wahrheit offenbart ſich nur dem Ge¬<lb/>
nius. Dieſer lauſcht niedergeſtreckt auf den<lb/>
Boden der Wirklichkeit, und hört wie in den<lb/>
innerſten Getrieben der Gemüther eine em¬<lb/>
bryoniſche Welt mit keimendem Bewußtſein<lb/>
wächſt. Wer auf ſeine Entwickelung lauſcht,<lb/>
muß ſich oft geſtehen, daß ganze Gedichte in<lb/>
ihm ſich zuſammenreimen aus Motiven, welche<lb/>
die Außenwelt niemals anerkennen würde. Dies<lb/>ſollte nicht auch Wahrheit ſein? Dies ſollte<lb/>
den Dichter nicht entzücken? Die Alten und<lb/>
die Mittleren ſchufen in dieſer Weiſe nicht:<lb/>
aber die Modernen werden es. Ihre Hiſto¬<lb/>
rien ſind nicht die Sage oder Geſchichte, ſon¬<lb/>
dern die Ideen, die im Schooße der ſtill wir¬<lb/>
kenden und ſchaffenden Gottheit ſchlummern.<lb/>
Die Welt, wie ſie iſt, wird ihren Gebilden<lb/>
nicht entſprechen; dieſe werden dem nüchternen<lb/>
Vorwurfe der Unwahrheit und Unwahrſchein¬<lb/><fwplace="bottom"type="sig">21 *<lb/></fw></p></div></body></text></TEI>
[323/0332]
kommen combiniren, ſondern revolutionär. Die
poetiſche Wahrheit offenbart ſich nur dem Ge¬
nius. Dieſer lauſcht niedergeſtreckt auf den
Boden der Wirklichkeit, und hört wie in den
innerſten Getrieben der Gemüther eine em¬
bryoniſche Welt mit keimendem Bewußtſein
wächſt. Wer auf ſeine Entwickelung lauſcht,
muß ſich oft geſtehen, daß ganze Gedichte in
ihm ſich zuſammenreimen aus Motiven, welche
die Außenwelt niemals anerkennen würde. Dies
ſollte nicht auch Wahrheit ſein? Dies ſollte
den Dichter nicht entzücken? Die Alten und
die Mittleren ſchufen in dieſer Weiſe nicht:
aber die Modernen werden es. Ihre Hiſto¬
rien ſind nicht die Sage oder Geſchichte, ſon¬
dern die Ideen, die im Schooße der ſtill wir¬
kenden und ſchaffenden Gottheit ſchlummern.
Die Welt, wie ſie iſt, wird ihren Gebilden
nicht entſprechen; dieſe werden dem nüchternen
Vorwurfe der Unwahrheit und Unwahrſchein¬
21 *
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Gutzkow, Karl: Wally, die Zweiflerin. Mannheim, 1835, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_wally_1835/332>, abgerufen am 27.04.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.