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Gutzkow, Karl: Wally, die Zweiflerin. Mannheim, 1835.

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kommen combiniren, sondern revolutionär. Die
poetische Wahrheit offenbart sich nur dem Ge¬
nius. Dieser lauscht niedergestreckt auf den
Boden der Wirklichkeit, und hört wie in den
innersten Getrieben der Gemüther eine em¬
bryonische Welt mit keimendem Bewußtsein
wächst. Wer auf seine Entwickelung lauscht,
muß sich oft gestehen, daß ganze Gedichte in
ihm sich zusammenreimen aus Motiven, welche
die Außenwelt niemals anerkennen würde. Dies
sollte nicht auch Wahrheit sein? Dies sollte
den Dichter nicht entzücken? Die Alten und
die Mittleren schufen in dieser Weise nicht:
aber die Modernen werden es. Ihre Histo¬
rien sind nicht die Sage oder Geschichte, son¬
dern die Ideen, die im Schooße der still wir¬
kenden und schaffenden Gottheit schlummern.
Die Welt, wie sie ist, wird ihren Gebilden
nicht entsprechen; diese werden dem nüchternen
Vorwurfe der Unwahrheit und Unwahrschein¬

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kommen combiniren, ſondern revolutionär. Die
poetiſche Wahrheit offenbart ſich nur dem Ge¬
nius. Dieſer lauſcht niedergeſtreckt auf den
Boden der Wirklichkeit, und hört wie in den
innerſten Getrieben der Gemüther eine em¬
bryoniſche Welt mit keimendem Bewußtſein
wächſt. Wer auf ſeine Entwickelung lauſcht,
muß ſich oft geſtehen, daß ganze Gedichte in
ihm ſich zuſammenreimen aus Motiven, welche
die Außenwelt niemals anerkennen würde. Dies
ſollte nicht auch Wahrheit ſein? Dies ſollte
den Dichter nicht entzücken? Die Alten und
die Mittleren ſchufen in dieſer Weiſe nicht:
aber die Modernen werden es. Ihre Hiſto¬
rien ſind nicht die Sage oder Geſchichte, ſon¬
dern die Ideen, die im Schooße der ſtill wir¬
kenden und ſchaffenden Gottheit ſchlummern.
Die Welt, wie ſie iſt, wird ihren Gebilden
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[323/0332] kommen combiniren, ſondern revolutionär. Die poetiſche Wahrheit offenbart ſich nur dem Ge¬ nius. Dieſer lauſcht niedergeſtreckt auf den Boden der Wirklichkeit, und hört wie in den innerſten Getrieben der Gemüther eine em¬ bryoniſche Welt mit keimendem Bewußtſein wächſt. Wer auf ſeine Entwickelung lauſcht, muß ſich oft geſtehen, daß ganze Gedichte in ihm ſich zuſammenreimen aus Motiven, welche die Außenwelt niemals anerkennen würde. Dies ſollte nicht auch Wahrheit ſein? Dies ſollte den Dichter nicht entzücken? Die Alten und die Mittleren ſchufen in dieſer Weiſe nicht: aber die Modernen werden es. Ihre Hiſto¬ rien ſind nicht die Sage oder Geſchichte, ſon¬ dern die Ideen, die im Schooße der ſtill wir¬ kenden und ſchaffenden Gottheit ſchlummern. Die Welt, wie ſie iſt, wird ihren Gebilden nicht entſprechen; dieſe werden dem nüchternen Vorwurfe der Unwahrheit und Unwahrſchein¬ 21 *

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Zitationshilfe: Gutzkow, Karl: Wally, die Zweiflerin. Mannheim, 1835, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_wally_1835/332>, abgerufen am 27.04.2024.