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Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.

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herben Gefühle so schnell übermannt, daß man ein Lob niederschreiben will, welches sich unter der Feder in den bittersten Tadel verwandelt. Jch will nicht den Sittenprediger in diesem Buche spielen, weil ich mir sonst die Möglichkeit nehmen würde, auf meine Zeitgenossen zu wirken. Sie schildern, ist mehr, als sie belehren wollen, denn das Erstere läßt ihr Urtheil frei, während das Zweite es gefangen nimmt. Jch will keine Anklage stellen, sondern nur die Thatbestände ermitteln. Jeder prüfe sich selbst und richte sich!

Kann etwas die Unbestimmtheit unsrer heutigen Zustände besser charakterisiren, als die Schwierigkeit dieses Kapitels, die ich unverhohlen eingestehe? Die neue Zeit schildern, den Liberalismus deduziren, das sind leichte Aufgaben für den, der merkt und hört; aber alle unsre momentanen und doch wieder an das Jahrhundert geknüpften Jdeenverbindungen zusammenfassen und im Gegensatz gegen die Antike und das romantische Zeitalter den innern Kern der modernen Welt aussprechen, ist ein Räthsel, das wir nur halb lösen werden. Wir werden gleichsam sagen: Der Horizont z. B. ist der Sinn des Räthsels! und nach Jahrhunderten wird es sich herausstellen, daß wir hätten sagen müssen: Das Auge ist die Lösung.

Moderne Moral! Kann es eine solche geben? Muß die Moral nicht eine ewige seyn? Und doch gab es eine ausschließlich antike, eine romantische Moral; beide einseitig, aber gerecht vor dem Richterstuhle ihrer selbst.

herben Gefühle so schnell übermannt, daß man ein Lob niederschreiben will, welches sich unter der Feder in den bittersten Tadel verwandelt. Jch will nicht den Sittenprediger in diesem Buche spielen, weil ich mir sonst die Möglichkeit nehmen würde, auf meine Zeitgenossen zu wirken. Sie schildern, ist mehr, als sie belehren wollen, denn das Erstere läßt ihr Urtheil frei, während das Zweite es gefangen nimmt. Jch will keine Anklage stellen, sondern nur die Thatbestände ermitteln. Jeder prüfe sich selbst und richte sich!

Kann etwas die Unbestimmtheit unsrer heutigen Zustände besser charakterisiren, als die Schwierigkeit dieses Kapitels, die ich unverhohlen eingestehe? Die neue Zeit schildern, den Liberalismus deduziren, das sind leichte Aufgaben für den, der merkt und hört; aber alle unsre momentanen und doch wieder an das Jahrhundert geknüpften Jdeenverbindungen zusammenfassen und im Gegensatz gegen die Antike und das romantische Zeitalter den innern Kern der modernen Welt aussprechen, ist ein Räthsel, das wir nur halb lösen werden. Wir werden gleichsam sagen: Der Horizont z. B. ist der Sinn des Räthsels! und nach Jahrhunderten wird es sich herausstellen, daß wir hätten sagen müssen: Das Auge ist die Lösung.

Moderne Moral! Kann es eine solche geben? Muß die Moral nicht eine ewige seyn? Und doch gab es eine ausschließlich antike, eine romantische Moral; beide einseitig, aber gerecht vor dem Richterstuhle ihrer selbst.

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[161/0189] herben Gefühle so schnell übermannt, daß man ein Lob niederschreiben will, welches sich unter der Feder in den bittersten Tadel verwandelt. Jch will nicht den Sittenprediger in diesem Buche spielen, weil ich mir sonst die Möglichkeit nehmen würde, auf meine Zeitgenossen zu wirken. Sie schildern, ist mehr, als sie belehren wollen, denn das Erstere läßt ihr Urtheil frei, während das Zweite es gefangen nimmt. Jch will keine Anklage stellen, sondern nur die Thatbestände ermitteln. Jeder prüfe sich selbst und richte sich! Kann etwas die Unbestimmtheit unsrer heutigen Zustände besser charakterisiren, als die Schwierigkeit dieses Kapitels, die ich unverhohlen eingestehe? Die neue Zeit schildern, den Liberalismus deduziren, das sind leichte Aufgaben für den, der merkt und hört; aber alle unsre momentanen und doch wieder an das Jahrhundert geknüpften Jdeenverbindungen zusammenfassen und im Gegensatz gegen die Antike und das romantische Zeitalter den innern Kern der modernen Welt aussprechen, ist ein Räthsel, das wir nur halb lösen werden. Wir werden gleichsam sagen: Der Horizont z. B. ist der Sinn des Räthsels! und nach Jahrhunderten wird es sich herausstellen, daß wir hätten sagen müssen: Das Auge ist die Lösung. Moderne Moral! Kann es eine solche geben? Muß die Moral nicht eine ewige seyn? Und doch gab es eine ausschließlich antike, eine romantische Moral; beide einseitig, aber gerecht vor dem Richterstuhle ihrer selbst.

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Gutzkow Editionsprojekt: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-09-13T12:39:16Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
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Zitationshilfe: Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/189>, abgerufen am 29.04.2024.