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Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.

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Aufopferung widmen müssen, daß man sich dadurch genirt fühlen würde. Sie haben ein wahres Wort gesprochen, wenn Sie irgendwo sagen: Was heute Meinung ist, war vor zehen Jahren Philosophie! Und sehen Sie, in der Mitte dieses Abstandes, fünf Jahre nach der Philosophie und fünf Jahre vor der Meinung steckt gerade das Moderne mitten inne. Es ist nicht tief und nicht praktisch genug, um sich für das Ganze zu entscheiden und hält sich demnach an die Hälfte.

So und ähnlich sprech' ich oft mit Sir Anacharsis. Denn auch dieß ist eben ein Zeichen des Modernen und ein rechter Beweis dieses sich erst bildenden, durchaus noch nicht abgeschlossenen Begriffes, daß das Moderne viel über sich selbst spricht, daß es hundert Fragen ineinander bespricht und aus formeller Dialektik Resultate erlangen zu können sich einbildet. Das eigentliche Moderne scheint mir eine Mischung von angebornem Verstande und raffinirtem Gemüth zu seyn. Daraus ergeben sich die Leiden, die Vorzüge und die Widersprüche dieses Genres im Leben wie in der Literatur. Es beweisen aber auch namentlich diese Widersprüche, daß das Moderne durchaus dem Antiken und Romantischen nicht sollte als drittes Congruum an die Seite gesetzt werden, sondern daß diese Anschauung der Dinge und der Menschen ein Uebergang zu einer weitern Entwicklungsstufe ist, welche unsre Zeit erklimmen muß. Das Moderne ist, schon durch die große Schwierigkeit der sichern Definition, kein bleibendes, wenn auch sonst charakteristisches

Aufopferung widmen müssen, daß man sich dadurch genirt fühlen würde. Sie haben ein wahres Wort gesprochen, wenn Sie irgendwo sagen: Was heute Meinung ist, war vor zehen Jahren Philosophie! Und sehen Sie, in der Mitte dieses Abstandes, fünf Jahre nach der Philosophie und fünf Jahre vor der Meinung steckt gerade das Moderne mitten inne. Es ist nicht tief und nicht praktisch genug, um sich für das Ganze zu entscheiden und hält sich demnach an die Hälfte.

So und ähnlich sprech’ ich oft mit Sir Anacharsis. Denn auch dieß ist eben ein Zeichen des Modernen und ein rechter Beweis dieses sich erst bildenden, durchaus noch nicht abgeschlossenen Begriffes, daß das Moderne viel über sich selbst spricht, daß es hundert Fragen ineinander bespricht und aus formeller Dialektik Resultate erlangen zu können sich einbildet. Das eigentliche Moderne scheint mir eine Mischung von angebornem Verstande und raffinirtem Gemüth zu seyn. Daraus ergeben sich die Leiden, die Vorzüge und die Widersprüche dieses Genres im Leben wie in der Literatur. Es beweisen aber auch namentlich diese Widersprüche, daß das Moderne durchaus dem Antiken und Romantischen nicht sollte als drittes Congruum an die Seite gesetzt werden, sondern daß diese Anschauung der Dinge und der Menschen ein Uebergang zu einer weitern Entwicklungsstufe ist, welche unsre Zeit erklimmen muß. Das Moderne ist, schon durch die große Schwierigkeit der sichern Definition, kein bleibendes, wenn auch sonst charakteristisches

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[172/0200] Aufopferung widmen müssen, daß man sich dadurch genirt fühlen würde. Sie haben ein wahres Wort gesprochen, wenn Sie irgendwo sagen: Was heute Meinung ist, war vor zehen Jahren Philosophie! Und sehen Sie, in der Mitte dieses Abstandes, fünf Jahre nach der Philosophie und fünf Jahre vor der Meinung steckt gerade das Moderne mitten inne. Es ist nicht tief und nicht praktisch genug, um sich für das Ganze zu entscheiden und hält sich demnach an die Hälfte. So und ähnlich sprech’ ich oft mit Sir Anacharsis. Denn auch dieß ist eben ein Zeichen des Modernen und ein rechter Beweis dieses sich erst bildenden, durchaus noch nicht abgeschlossenen Begriffes, daß das Moderne viel über sich selbst spricht, daß es hundert Fragen ineinander bespricht und aus formeller Dialektik Resultate erlangen zu können sich einbildet. Das eigentliche Moderne scheint mir eine Mischung von angebornem Verstande und raffinirtem Gemüth zu seyn. Daraus ergeben sich die Leiden, die Vorzüge und die Widersprüche dieses Genres im Leben wie in der Literatur. Es beweisen aber auch namentlich diese Widersprüche, daß das Moderne durchaus dem Antiken und Romantischen nicht sollte als drittes Congruum an die Seite gesetzt werden, sondern daß diese Anschauung der Dinge und der Menschen ein Uebergang zu einer weitern Entwicklungsstufe ist, welche unsre Zeit erklimmen muß. Das Moderne ist, schon durch die große Schwierigkeit der sichern Definition, kein bleibendes, wenn auch sonst charakteristisches

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Zitationshilfe: Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/200>, abgerufen am 26.04.2024.