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Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.

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mit der Geschichte des Volkes zunächst in gar keinem lebendigen und organischen Zusammenhang mehr standen. So steht auch die römische Gesetzgebung da als Muster einer abstrakten Verstandestheorie, ohne daß es ihr je hätte gelingen können, in thatsächliche Völkerzustände eingreifende und belebende Wurzeln zu schlagen. Jn China bedarf es wenig Gesetze, weil in diesem Lande nichts als Sitte herrscht. Die Tradition hat hier im Laufe der Geschichte sich eine so schnurgerade und mathematische Grenze erhalten können, daß in China die Menschen und die Dinge, die Personen und die Zeiten alle nur ein und denselben Pfad wandeln. Bei uns ist jezt an die Stelle der Sitten eine allgemeine Moral getreten. Die Vorschriften des Christenthums haben zwar in ihrer dogmatischen Begründung den Glauben der Völker nicht ewig fesseln können, allein die christliche Moral ist die natürliche Mitgift jedes neugebornen Kindes geworden. Wir haben nur noch wenig Sitten, aber dafür ein sehr kräftiges Sittengesetz, und dies macht es, daß man in unsern Zeiten weit weniger nach öffentlichen Vorschriften, als nach einer dilettantischen Willkür lebt, die sich ihre Schranken selbst gezogen hat. Die Gesetze haben jezt in dem Sinne keine beherrschende Kraft mehr, daß sie unser ganzes Daseyn zügeln und regeln sollten, sondern sie sind weit mehr untergeordnet, nicht etwa unsern Sitten, sondern unserm Moralprinzipe, dem durch Christenthum und Bildung allmälig in

mit der Geschichte des Volkes zunächst in gar keinem lebendigen und organischen Zusammenhang mehr standen. So steht auch die römische Gesetzgebung da als Muster einer abstrakten Verstandestheorie, ohne daß es ihr je hätte gelingen können, in thatsächliche Völkerzustände eingreifende und belebende Wurzeln zu schlagen. Jn China bedarf es wenig Gesetze, weil in diesem Lande nichts als Sitte herrscht. Die Tradition hat hier im Laufe der Geschichte sich eine so schnurgerade und mathematische Grenze erhalten können, daß in China die Menschen und die Dinge, die Personen und die Zeiten alle nur ein und denselben Pfad wandeln. Bei uns ist jezt an die Stelle der Sitten eine allgemeine Moral getreten. Die Vorschriften des Christenthums haben zwar in ihrer dogmatischen Begründung den Glauben der Völker nicht ewig fesseln können, allein die christliche Moral ist die natürliche Mitgift jedes neugebornen Kindes geworden. Wir haben nur noch wenig Sitten, aber dafür ein sehr kräftiges Sittengesetz, und dies macht es, daß man in unsern Zeiten weit weniger nach öffentlichen Vorschriften, als nach einer dilettantischen Willkür lebt, die sich ihre Schranken selbst gezogen hat. Die Gesetze haben jezt in dem Sinne keine beherrschende Kraft mehr, daß sie unser ganzes Daseyn zügeln und regeln sollten, sondern sie sind weit mehr untergeordnet, nicht etwa unsern Sitten, sondern unserm Moralprinzipe, dem durch Christenthum und Bildung allmälig in

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[16/0018] mit der Geschichte des Volkes zunächst in gar keinem lebendigen und organischen Zusammenhang mehr standen. So steht auch die römische Gesetzgebung da als Muster einer abstrakten Verstandestheorie, ohne daß es ihr je hätte gelingen können, in thatsächliche Völkerzustände eingreifende und belebende Wurzeln zu schlagen. Jn China bedarf es wenig Gesetze, weil in diesem Lande nichts als Sitte herrscht. Die Tradition hat hier im Laufe der Geschichte sich eine so schnurgerade und mathematische Grenze erhalten können, daß in China die Menschen und die Dinge, die Personen und die Zeiten alle nur ein und denselben Pfad wandeln. Bei uns ist jezt an die Stelle der Sitten eine allgemeine Moral getreten. Die Vorschriften des Christenthums haben zwar in ihrer dogmatischen Begründung den Glauben der Völker nicht ewig fesseln können, allein die christliche Moral ist die natürliche Mitgift jedes neugebornen Kindes geworden. Wir haben nur noch wenig Sitten, aber dafür ein sehr kräftiges Sittengesetz, und dies macht es, daß man in unsern Zeiten weit weniger nach öffentlichen Vorschriften, als nach einer dilettantischen Willkür lebt, die sich ihre Schranken selbst gezogen hat. Die Gesetze haben jezt in dem Sinne keine beherrschende Kraft mehr, daß sie unser ganzes Daseyn zügeln und regeln sollten, sondern sie sind weit mehr untergeordnet, nicht etwa unsern Sitten, sondern unserm Moralprinzipe, dem durch Christenthum und Bildung allmälig in

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Zitationshilfe: Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen02_1842/18>, abgerufen am 29.04.2024.