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Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.

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encyklopädistischen. Man ist allgemein darüber einverstanden, daß selbst mitten in dem geschmacklosen Einflusse des französischen vor-revolutionären Lebens, wo weder Malerei, noch Poesie zur wahren Kunst anregen konnten, doch in den Schöpfungen Gluks ächte Klassicität lag, wie auch mitten in dem Flor des über England gekommenen Reifrocklebens Händel, eine von aller Manier freie, urkräftige Genialität in seinen Oratorien offenbarte. Jn Haydn und Mozart kulminirte die Musik des vorigen Jahrhunderts. Wir unterhalten uns vielleicht gut bei neuerer französischer Musik; allein wir müssen doch immer darauf zurückkommen, daß sich die würdige Schönheit der musikalischen Gedanken und die einschmeichelndste Grazie der Melodie nur bei den großen Vorgängern findet. Die neuere Musik ist beständig nur zum Ausdruck von Vorstellungen und Worten gebraucht worden, so daß das melodische Element in ihr durch Deklamation und musikalische Rhetorik verdrängt wurde. Der Einfachheit der alten mythologischen und theilweise romantischen Oper war die melodiöse Unbestimmtheit der sie begleitenden Musik vollkommen angemessen; doch jezt treten die Süjets der Oper so scharf hervor, ihre Charaktere müssen so prägnant seyn, daß hiedurch die Musik auch den Charakter einer überreizten musikalischen Sprache angenommen hat. Allein bei der Musik ist die Wirkung einer solchen Ueberschraubung ganz entgegengesezt, wie bei der Poesie. Hier erzeugt die

encyklopädistischen. Man ist allgemein darüber einverstanden, daß selbst mitten in dem geschmacklosen Einflusse des französischen vor-revolutionären Lebens, wo weder Malerei, noch Poesie zur wahren Kunst anregen konnten, doch in den Schöpfungen Gluks ächte Klassicität lag, wie auch mitten in dem Flor des über England gekommenen Reifrocklebens Händel, eine von aller Manier freie, urkräftige Genialität in seinen Oratorien offenbarte. Jn Haydn und Mozart kulminirte die Musik des vorigen Jahrhunderts. Wir unterhalten uns vielleicht gut bei neuerer französischer Musik; allein wir müssen doch immer darauf zurückkommen, daß sich die würdige Schönheit der musikalischen Gedanken und die einschmeichelndste Grazie der Melodie nur bei den großen Vorgängern findet. Die neuere Musik ist beständig nur zum Ausdruck von Vorstellungen und Worten gebraucht worden, so daß das melodische Element in ihr durch Deklamation und musikalische Rhetorik verdrängt wurde. Der Einfachheit der alten mythologischen und theilweise romantischen Oper war die melodiöse Unbestimmtheit der sie begleitenden Musik vollkommen angemessen; doch jezt treten die Süjets der Oper so scharf hervor, ihre Charaktere müssen so prägnant seyn, daß hiedurch die Musik auch den Charakter einer überreizten musikalischen Sprache angenommen hat. Allein bei der Musik ist die Wirkung einer solchen Ueberschraubung ganz entgegengesezt, wie bei der Poesie. Hier erzeugt die

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[274/0276] encyklopädistischen. Man ist allgemein darüber einverstanden, daß selbst mitten in dem geschmacklosen Einflusse des französischen vor-revolutionären Lebens, wo weder Malerei, noch Poesie zur wahren Kunst anregen konnten, doch in den Schöpfungen Gluks ächte Klassicität lag, wie auch mitten in dem Flor des über England gekommenen Reifrocklebens Händel, eine von aller Manier freie, urkräftige Genialität in seinen Oratorien offenbarte. Jn Haydn und Mozart kulminirte die Musik des vorigen Jahrhunderts. Wir unterhalten uns vielleicht gut bei neuerer französischer Musik; allein wir müssen doch immer darauf zurückkommen, daß sich die würdige Schönheit der musikalischen Gedanken und die einschmeichelndste Grazie der Melodie nur bei den großen Vorgängern findet. Die neuere Musik ist beständig nur zum Ausdruck von Vorstellungen und Worten gebraucht worden, so daß das melodische Element in ihr durch Deklamation und musikalische Rhetorik verdrängt wurde. Der Einfachheit der alten mythologischen und theilweise romantischen Oper war die melodiöse Unbestimmtheit der sie begleitenden Musik vollkommen angemessen; doch jezt treten die Süjets der Oper so scharf hervor, ihre Charaktere müssen so prägnant seyn, daß hiedurch die Musik auch den Charakter einer überreizten musikalischen Sprache angenommen hat. Allein bei der Musik ist die Wirkung einer solchen Ueberschraubung ganz entgegengesezt, wie bei der Poesie. Hier erzeugt die

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Zitationshilfe: Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen02_1842/276>, abgerufen am 29.05.2024.