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Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.

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war. Die Geschichte war das Weltgericht, im Doppelsinne das tägliche Brod, welches auf den Tisch der Literatur kam. Wie es Köche gibt, die Alles mit einem Kraute würzen, so mußte auch bei Allem, was die Poesie aufsezte, Historie zugemischt seyn. Die großen Ereignisse mußten mit kleinen Landstraßenvorfällen Hand in Hand gehen. Von den Helden der Jahrhunderte mußten selbst die ihnen zugehörigen Stallknechte auftreten. Die Geschichte wurde bei jedem verliebten Paare zum Zeugen der Hochzeit, bei jeder Kindtaufe zu Gevatter geladen. Frauen, Hexen, Juden und eine Anzahl von Nebenpersonen mußten zwischen Richard Löwenherz und sein Glück treten. Die Schicksale des unbedeutendsten Menschen interessirten uns, wenn er nur Stallmeister beim schwarzen Prinzen oder Falkonier bei Karl dem Kühnen war. Die Neigung für diese Gattung des Romanes hörte glücklicher Weise da auf, als man fürchten mußte, die Romantiker würden nun, da das Mittelalter und die neue Zeit bald erschöpft waren, sich in die Geschichte Babyloniens und Assyriens vertiefen und uns die Geschichte eines Edelfräuleins der Semiramis oder eines Adjutanten in der Armee des Sesostris in mehreren Bänden vor Augen führen. - Die zweite Gattung des Romanes, das Charakterbild, entwickelte sich wohl zunächst nicht aus dem psychologisch-komischen Roman des vorigen Jahrhunderts, sondern war nur eine Ausbildung der plötzlich einreißenden

war. Die Geschichte war das Weltgericht, im Doppelsinne das tägliche Brod, welches auf den Tisch der Literatur kam. Wie es Köche gibt, die Alles mit einem Kraute würzen, so mußte auch bei Allem, was die Poesie aufsezte, Historie zugemischt seyn. Die großen Ereignisse mußten mit kleinen Landstraßenvorfällen Hand in Hand gehen. Von den Helden der Jahrhunderte mußten selbst die ihnen zugehörigen Stallknechte auftreten. Die Geschichte wurde bei jedem verliebten Paare zum Zeugen der Hochzeit, bei jeder Kindtaufe zu Gevatter geladen. Frauen, Hexen, Juden und eine Anzahl von Nebenpersonen mußten zwischen Richard Löwenherz und sein Glück treten. Die Schicksale des unbedeutendsten Menschen interessirten uns, wenn er nur Stallmeister beim schwarzen Prinzen oder Falkonier bei Karl dem Kühnen war. Die Neigung für diese Gattung des Romanes hörte glücklicher Weise da auf, als man fürchten mußte, die Romantiker würden nun, da das Mittelalter und die neue Zeit bald erschöpft waren, sich in die Geschichte Babyloniens und Assyriens vertiefen und uns die Geschichte eines Edelfräuleins der Semiramis oder eines Adjutanten in der Armee des Sesostris in mehreren Bänden vor Augen führen. – Die zweite Gattung des Romanes, das Charakterbild, entwickelte sich wohl zunächst nicht aus dem psychologisch-komischen Roman des vorigen Jahrhunderts, sondern war nur eine Ausbildung der plötzlich einreißenden

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[286/0288] war. Die Geschichte war das Weltgericht, im Doppelsinne das tägliche Brod, welches auf den Tisch der Literatur kam. Wie es Köche gibt, die Alles mit einem Kraute würzen, so mußte auch bei Allem, was die Poesie aufsezte, Historie zugemischt seyn. Die großen Ereignisse mußten mit kleinen Landstraßenvorfällen Hand in Hand gehen. Von den Helden der Jahrhunderte mußten selbst die ihnen zugehörigen Stallknechte auftreten. Die Geschichte wurde bei jedem verliebten Paare zum Zeugen der Hochzeit, bei jeder Kindtaufe zu Gevatter geladen. Frauen, Hexen, Juden und eine Anzahl von Nebenpersonen mußten zwischen Richard Löwenherz und sein Glück treten. Die Schicksale des unbedeutendsten Menschen interessirten uns, wenn er nur Stallmeister beim schwarzen Prinzen oder Falkonier bei Karl dem Kühnen war. Die Neigung für diese Gattung des Romanes hörte glücklicher Weise da auf, als man fürchten mußte, die Romantiker würden nun, da das Mittelalter und die neue Zeit bald erschöpft waren, sich in die Geschichte Babyloniens und Assyriens vertiefen und uns die Geschichte eines Edelfräuleins der Semiramis oder eines Adjutanten in der Armee des Sesostris in mehreren Bänden vor Augen führen. – Die zweite Gattung des Romanes, das Charakterbild, entwickelte sich wohl zunächst nicht aus dem psychologisch-komischen Roman des vorigen Jahrhunderts, sondern war nur eine Ausbildung der plötzlich einreißenden

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Zitationshilfe: Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen02_1842/288>, abgerufen am 30.05.2024.